Autor: gt!nfo
17.03.2024
Es gibt Menschen, die Ostwestfalen für einen Begriff wie Norddsüdgefälle halten. Zwei unvereinbare Gegensätze sprachlich zusammengetackert wie siamesische Zwillinge nur ohne jegliche Ähnlichkeit. Die deutsche Sprache ist auch ohne Papier so geduldig, Widersprüche wie „Kunstverein“ oder Rechenaufgaben wie „Doppelhaushälfte“ für geläufig Begriffe zu halten. In Zahlen: 2,0 x 0,5 ergibt ein sinnvolles Ganzes. Die Gretchenfrage „Wie halten wir es grundsätzlich mit Widersprüchen?“ Im Osten wollen sogenannte Protestwähler bei den Landtagswahlen in diesem Jahr ihr Hakenkreuz bei der AfD machen, weil sie sich „überfremdet“ und abgehängt fühlen. Viele begründen noch mehr als 30 Jahre später ihren Ostwestkonflikt mit der Abwicklung ostdeutscher Unternehmen durch die Treuhand und damit der Abwertung von Lebensgeschichten. Wenn man recherchiert, in welchen Regionen des Landes schon in den 30ern viele Menschen rechtsextrem gewählt haben, erkennt man eine erschreckende Kontinuität. Im von mir so geliebten Osten ist das Opfernarrativ nicht erst seit der Wiedervereinigung weit verbreitet. Das könnte damit zusammenhängen, dass nach Kriegsende in der DDR angeblich 18 Millionen Widerstandskämpfer lebten, während die Täter des dritten Reichs ausschließlich in der kapitalistisch geprägten BRD zu finden waren. Kein Wort bis zur Wiedervereinigung über geschändete jüdische Friedhöfe, Skinheadgruppen und rassistische Übergriffe in der DDR. Dann die große Überraschung, als Anfang der 90er Menschen mit Demokratieüberforderung in Lichtenhagen Brandsätze auf Asylbewerberheime werfen. Menschen, die sich benachteiligt fühlen, brauchen einfache Erklärungen für ihre prekäre Situation, klare Feindbilder, denen sie die Schuld in die Schuhe mit Migrationshintergrund schieben können. Über Eigenverantwortung nachdenken zu müssen, ist ihnen zu anstrengend. In der Pandemiezeit zeigte sich ein ähnliches Phänomen: Corona ein herkömmliches Virus mit außergewöhnlichen Auswirkungen auf Berufsausübung und Freizeitverhalten? Das ist in einer von der Opferrolle geprägten Gesellschaft natürlich unbefriedigend. Wieviel Satisfaktion hingegen liefern Verschwörungstheorien bezüglich der „Verantwortlichen“ für dieses unsichtbare, geschmack- und geruchlos Monster, das uns monatelang in unserer Freiheit beschneidet. Da werden Gesundheitsminister und Leiter des Robert-Koch-Instituts als Überbringer der schlechten Nachrichten zum Hiob, dem man den Verlust von Haus, Hof und Familie an den Hals wünscht. Zumal wenn sich die „unwissende“ Mehrheit der Bevölkerung in ihr Schicksal ergibt und an die Spielregeln hält. Da müssen böse Mächte im Spiel sein, die im Hintergrund aus purem Eigennutz den bürgerlichen Mainstream als „Schlafschafe“ marionettenartig führen. Gerne genommen werden in diesem Zusammenhang Chinesen, Konzernchefs und Juden als Verursacher der Pandemie. Wenn dann beim Ausbruch der russischen Invasion in der Ukraine, die Mehrheit der Bevölkerung auf der Seite der ukrainischen Opfer steht, wird der Schwurbler natürlich gleich wieder skeptisch und sieht nicht im imperialistischen Größenwahn Putins die Schuld, sondern bei der Nato-Osterweiterung, die ihm keine andere Chance gelassen hat. Chrupalla, dessen Name Bio-Deutschen nur schwer korrekt über die Lippen kommt, fordert beim Tod Nawalnys in Haft dann konsequenterweise mit Vorverurteilungen gegenüber Putin aufzuhören ... bis die unabhängige Justiz der russischen Diktatur mit mehrwöchiger Verspätung die „wahre“ Todesursache propagiert? Ein Tollhaus von sauerstoffunterversorgten Spinnern ohne jegliche Geschichts- und Politikkenntnisse und ein Großteil der AfD-Wähler und Sahra Wagenknecht-Anhänger, die in manchen Bundesländern mehr als 30 Prozent der Wahlberechtigten ausmachen und somit den Ausgang der kommenden Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg mitbestimmen werden. Könnte die Einführung einer verpflichtenden Demokratiefähigkeitsprüfung für Wähler Abhilfe schaffen? Oder würde auch das bei Frustwählern nur zu einem „Führerschein“ verkommen? Wahlen sind nicht für ferngesteuerten Protest da, sondern um demokratische Volksvertreter in die Verantwortung zu bringen, sinnvolle Lösungen für die vielfältigen Probleme dieser Zeit zu erbringen. Einfache verfälschende Antworten für komplexe Konflikte, bringen keine Lösungen hervor, möglicherweise aber Wahlsiege. Ein mehrfach verurteilter Betrüger und narzistischer notorischer Lügner wird in Krisenzeiten möglicherweise von einer Mehrheit der US-Bevölkerung als ihr bester Präsident gesehen. Wird das Konflikte lösen oder als Katalysator befeuern? Werden Fakenews der Trumpisten und Desinformationskampagnen Putins Demokratien weltweit ins Wanken bringen? Der Krieg im Gazastreifen ist durch einen der schrecklichsten Terrorakte der Nachkriegsgeschichte am 7. Oktober ausgebrochen. Die Tötung von zigtausenden Zivilisten im Gazastreifen ist nicht die Lösung des Konflikts, aber die Folge des Hamas-Terrors. Die ausufernde Länge des Gegenschlags mit dem Tod tausender Unschuldiger auf palästinensischer Seite ist zugleich ein Armutszeugnis einer ultrakonservativen Regierung. Die Hamas ein für allemal nach dem 7. Oktober ausschalten zu wollen, ist als Selbstverteidigung verständlich, um eine Wiederholung zu verhindern, die Folgen dieses nahezu unmöglichen Unterfangens sind nur schwer erträglich. Die internationale Linke, die Israel als weiße Kolonialmacht sieht, die Völkermord an den Palästinensern begeht, blendet die Schuld der Hamas komplett aus. Südafrika zieht mit selber Begründung gegen Israel vor den internationalen Gerichtshof. Beim russischen Angriffskrieg in der Ukraine sind seit 2022 circa zehnmal so viele Menschen ums Leben gekommen, was Südafrika nicht zur Kritik sondern zur Waffenlieferung an den Agressor Russland veranlasst. Widersprüche oder konsequente Einseitigkeit? Junge deutsche Linke begründen mit dem angeblichen Genozid an Palästinensern ihre antisemitischen Übergriffe unter anderem auf jüdische Mitstudenten an der Freien Universität, andere schwingen anti-israelische Reden bei der Preisverleihung der Berlinale. Rechts wie links außen vom politischen Eifer geblendete Menschen, die mit Ambivalenzen und Ausgewogenheit bei der Betrachtung von politischen Zusammenhängen überfordert sind und sich stattdessen für einseitige Feindbilder entscheiden. Weit verbreitet ist in diesen Zeiten das Motto „ahnungslos&meinungsstark“. Es ist kompliziert, gefühlt oft ausweglos und frustrierend, die Ursachen für vielschichtige Konflikte umfassend zu verstehen. Als Ost-West-Fale ist man genetisch bedingt beauftragt, Gegensätze zu durchdringen und in sich zu vereinen. Die Kehrseite der weltpolitischen Bredouille ist, dass man aus Widersprüchlichem lernen kann. Hoffen wir, dass sich statt des Siegeszuges von KI endlich wieder mehr natürliche Intelligenz durchsetzt.