Autor: gt!nfo
06.07.2023
Punk und Ostwestfalen – ein Widerspruch in sich? Weit gefehlt, im beschaulichen Fachwerkstädtchen Rietberg feilt Martin Lück, Kopf der weit über Ostwestfalen
hinaus bekannten Band Brausepöter,
zurzeit an den Aufnahmen für ein Album, das eigentlich vor mehr als 40 Jahren zu den Hochzeiten der Punkbewegung hätte
erscheinen müssen.
Was ist an jemandem, der seit Ende der 70er Punkrock spielt typisch ostwestfälisch? Für ihn ist es die Benutzung des Wortes „immerhin“. Der Überschwang und die Selbstbeweihräucherung von Rheinländern ist ihm völlig fremd. Man feiert sich hier nicht und findet sich selbst nicht so geil. „Wie war denn gestern das Konzert?“ Antwort: „Für Gütersloh … immerhin.“ Brausepöter wurden 1978 nicht mal in Gütersloh, sondern in Rietberg gegründet, gehörten zur deutschen Punkszene der ersten Stunde, bekamen früh einen Plattenvertrag beim legendären Zickzack-Label von Alfred Hilsberg, spielten mit Abwärts und den Einstürzenden Neubauten 1980 in der Hamburger Markthalle. Mit ihrem Song „Bundeswehr“ waren sie 1981 im ARD-Musikfilm „Deutsche Welle“ zu sehen. Was der Start einer großen Karriere à la Die Toten Hosen hätte werden können, endete abrupt 1982 durch die Auflösung der Band. Schon mit der ersten Single „Liebe, Glück, Zufriedenheit“ waren Martin Lück und seine musikalischen Mitstreiter Bernd Hanhardt (Bass) und Klaus Feldmann (Schlagzeug) unzufrieden. Der Sound war ihnen vom Produzenten zu weichgespült. Der Text traf jedoch das Lebensgefühl vieler Jugendlicher in der Provinz zu jener Zeit:
„Als ich so am Fahren bin, spür ich nichts in mir drin
Ich fühl mich leer, so wie abgestorben, ganz kalt innen drin
Kein Gefühl von Liebe, Glück, Zufriedenheit
Kein Gefühl, nur kalte Leere macht sich breit“
Als sich die neue deutsche Welle vom Punkrock hin zur Schlagermusik lediglich im neuen Gewand entwickelte, gaben Brausepöter auf, da sie diese Kommerzialisierung befremdete. Für Martin Lück
war Punk immer mehr als nur ein Musikstil. Punk ist eine Bewegung, die sich gegen bürgerliche Konventionen, die Konsumgesellschaft und rechte Weltanschauungen stellt. Dass gerade heute Punk bei jungen Menschen wieder eine Rolle spielt, erscheint angesichts von Krieg, Klimakrise und erstarkendem Rechtsextremismus nicht verwunderlich. Protagonistinnen von damals wie Annette Benjamin von Hans-A-Plast nehmen wieder neue Alben auf, jüngere erfolgreiche Bands wie Isolation Berlin und Team Scheisse zeigen, dass es sich bei Punk aber nicht um ein nostalgisches Revival handelt, sondern Punk Ausdruck eines nach wie vor akuten Lebensgefühls ist. Martin Lück langweilen jedoch vordergründig politische Texte. Über Politik liest er lieber in der Zeitung. Seine Begeisterung für Glamrock von Marc Bolans T-Rex ließ ihn mit 13 selbst Gitarre lernen. Punkrock war dann die Chance, sich von Hippietum und verkopftem Kunstrock der 70er zu lösen. Punk ermöglichte ohne abgeschlossenes Musikstudium, völlig ohne Hemmschwelle eine Gitarre in die Hand zu nehmen und Songs auf die Bühne zu bringen. Das alles mit deutschen Texten, die einfach und direkt das eigene Lebensgefühl ausdrückten. Die FAZ schrieb in einer Rezension über das 2019 erschienene Album „Nerven geschädigt“: „Brausepöter ist eine deutsche Band, die leider zu gut war, um so berühmt zu werden wie Trio oder Die Toten Hosen.“ Zwischen der resignierten Auflösung 1982 und den Lobeshymnen in der bundesweiten Presse wie Spiegel online, taz und FAZ liegt eine erstaunliche Entwicklung, die man mit „Kaff&Kosmos“ übertiteln könnte. Die Band schloss sich für einen Auftritt in meiner Bühnenshow „Rietberg live!“ zur Einweihung der ausverkauften Cultura im April 2008 wieder zusammen und spielte dort die alten Songs mit der ungewöhnlichen Unterstützung der „Rietberger Jäger“, einem Blasorchester aus der Emsstadt und damit dem genauen Gegenteil von Punk. Es folgten eine Compilation mit alten Songs und sehr bald auch wieder regelmäßige Auftritte. Die Songs aus der Anfangsphase wurden selbst von einem New Yorker Radiosender wiederentdeckt und regelmäßig gespielt. „Bundeswehr“ war Teil der Ausstellung „Geniale Dilettanten“ im Münchner Haus der Kunst. Der Punkrock aus der ostwestfälischen Provinz wurde retrospektiv auch in den Metropolen hoffähig.
Aber Brausepöter hatten kein Interesse da-ran, künftig nur noch als Gralshüter der alten „Hits“ auf musealer Nostalgietour unterwegs zu sein. Das Album „Selbstauslöser“ mit neuen Songs erhielt 2015 den Kulturstern des Jahres.
Die Songs entstehen im Proberaum als Collagen aus Sessions, bei denen die Band gemeinsam improvisiert. Die Aufnahmen dieser Sessions sind lebendiger, als wenn seine Mitstreiter wissen, dass jetzt aufgenommen wird, was dann häufig zu clean und blutleer klingt. So bewahren sich Brausepöter einen sehr direkten, lebendigen Sound.
Auf Konzerten spielen sie mit Vorliebe diese neuen Songs, ohne dabei aber auf ihre Klassiker zu verzichten. Spiegel online bescheinigte der Band zum Album „Nerven geschädigt“: „In ihrem radikalen Desinteresse an allem, was gerade so geht und erfolgversprechend wäre, wirkt die Musik von Brausepöter heute sogar um einiges konsequenter als damals.“ Der späte Erfolg beflügelt, aber wie lange wollen Brausepöter noch weitermachen? Die Musiker haben immerhin die 60 schon überschritten. Martin Lück kann sich überhaupt nicht vorstellen, das irgendwann nicht mehr zu machen. Die Vorstellung aufzuhören, bereitet ihm Unbehagen. Das liegt an seiner inneren Unruhe. Er bewundert es, wie Freunde immer auf denselben Campingplatz fahren können. Sitzen will gelernt sein. Das würde er auch gerne können, funktioniert bei ihm aber nicht.
Ruhestand hat für ihn etwas hochgradig Beunruhigendes. So können wir uns neben dem im Dezember beim Hamburger Label „Tapete Records“ erscheinenden Album mit den alten Klassikern, deren Originalaufnahmen zurzeit aufwendig beim WDR „restauriert“ werden, auch weiter auf neue Songs freuen. Die EP „Tourist“ mit vier neuen Songs ist bereits erschienen. Brausepöter bleiben innerlich weiter auf der Durchreise: „Wir sind hier alle, alle Tourist. Niemand der länger, länger hier ist.“
Zur Person
Martin Quilitz hat seine ersten Auftritte in der Weberei in Gütersloh gemacht. Der gebürtige Rietberger kann als Moderator und Kabarettist auf mehr als 3.000 Bühnenauftritte sowie 100 TV-Sendungen zurückblicken. Er moderiert und konzipiert Varieté-Shows, Comedy Clubs, Kongresse etc. und gibt Workshops. Martin Quilitz schreibt für gt!nfo als freier Autor.