„Ein guter Bürgermeister ist ein guter Moderator“

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

03.11.2024

Louisa Anna Süß von der Ruhr-Universität Bochum.


Gütersloh steht ein Jahr vor den Kommunalwahlen vor einer wichtigen politischen Richtungsentscheidung: Am 17. November wählen die Gütersloherinnen und Gütersloher einen neuen Bürgermeister beziehungsweise eine neue Bürgermeisterin für Gütersloh, nachdem der bisherige Amtsträger Norbert Morkes durch ein Abwahlverfahren seinen Schreibtisch räumen musste. Vier Kandidaten stehen zur Wahl. Welche Bedeutung aber hat eigentlich ein Bürgermeister für unsere Stadt, was sind seine Aufgaben, wo liegen seine Gestaltungsmöglichkeiten, was begrenzt seine Macht und vor allem: was macht ihn zu einem starken Amtsträger? gt!nfo befragte Louisa Anna Süß von der Ruhr-Universität Bochum zu diesen und anderen Themen, ohne auf die besondere Situation in Gütersloh einzugehen. Sie promoviert zurzeit zum Thema Bürgermeister an der Ruhr-Uni Bochum.

 

(Aus Gründen der besseren Lesbarkeit hat sich die Redaktion für die Schreibweise des sog. generischen Maskulinums entschieden. Der Begriff „Bürgermeister“ schließt sprachlich auch die weibliche Bürgermeister-Kandidatin Gitte Trostmann ein.)

 

Frau Süß, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit der Funktion und den rechtlichen Rahmenbedingungen eines Bürgermeisters in Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Wo sehen Sie die wichtigsten Aufgaben und Pflichten von Bürgermeistern gemäß der NRW-Kommunalverfassung?

Süß: Der Bürgermeister ist Leiter der Verwaltung und Vorsitzender des Stadtrats. Für die Ratssitzung gibt er die Tagesordnung vor, womit er eine gewisse Steuerung einbauen kann. Wichtiger Punkt ist auch, dass er eine Widerspruchspflicht hat, wenn ein Ratsbeschluss aus seiner Sicht rechtswidrig ist. Er kann die innere Organisation der Verwaltung beeinflussen und trägt als Verwaltungschef die Gesamtverantwortung.

 

Sie sprechen von der Möglichkeit einer gewissen Steuerung des Rates. Heißt das übersetzt: Je sorgfältiger die Ratsbeschlussvorlage von der Verwaltung formuliert ist, um so stärker ist der Einfluss auf das gewünschte Abstimmungsergebnis?

Süß: Ein Bürgermeister ist natürlich immer gut beraten, sich gut vorzubereiten, vor allem aber bei heiklen Themen im Austausch mit den Fraktionen zu stehen. Die Erklär-Funktion des Bürgermeisters im Vorfeld einer Sitzung ist wichtig. Wer eine offene Kommunikationskultur pflegt und auch unterschiedliche Positionen zusammenführen kann, wird eher erfolgreich sein, als der, der eine kompromisslose Linie vertritt. Aus meiner Forschungsarbeit kann ich sagen: Ein guter Bürgermeister ist auch ein guter Moderator, kriegt die Leute an einen Tisch. Er informiert und steuert die Diskussion.


Sehen Sie den Bürgermeister als herausragende politische Figur?

Süß: Er ist auf jeden Fall ein zentraler Akteur. Der Politikwissenschaftler David H. Gehne bezeichnet ihn als „Galionsfigur“, weil er vorneweg geht. Er ist Repräsentant der Gemeinde in Richtung Kreis, Land und manchmal auch bei Bundes-Thematiken. Ein Bürgermeister ist dann stark, wenn er seine integrative Funktion wahrnimmt und alle zusammenbringt: den Rat als politische Arena, die Verwaltung als administrative Arena und die Bürgerinnen und Bürger. Zivilgesellschaftliche Bedeutung gewinnt der Amtsträger, wenn er die Nähe zu den Menschen in der Stadt pflegt.


Wieviel Macht hat ein Bürgermeister in Nordrhein-Westfalen?

Süß: In NRW ist er abhängiger vom Rat als zum Beispiel in Baden-Württemberg, weil der Rat bei uns mehr Kompetenzen hat. Dabei ist der Verwaltungsvorstand wichtig, da die Dezernenten in ihren Fachbereichen Ratsbeschlüsse vorbereiten und auch umsetzen. Hier kann ein Bürgermeister durch gute Zusammenarbeit in seiner umfassenden Lenkungsfunktion Einfluss nehmen. Dazu kommt es auch auf die politische Konstellation im Rat an: Gibt es im Rat eine formale Koalition von Mehrheitsfraktionen oder arbeitet man ohne formal niedergeschriebeneKoalition zusammen? Noch schwieriger wird es, wenn in Nordrhein-Westfalen der Bürgermeister von Partei A ist, im Rat aber eine Mehrheitskoalition aus den Parteien B und C besteht: dann herrscht eine sogenannte Kohabitation. In diesem Fall kommt es auf das Kommunikationstalent des Bürgermeisters an – er muss also viel reden und überzeugen können. Das funktioniert in aller Regel auch, weil keine Kommune es sich leisten kann, dass fünf Jahre Stillstand herrscht. Wir beobachten übrigens, dass sich die Kultur im Rat gegenüber den 80er- und 90er-Jahren geändert hat: Kompromisse sind heute häufiger. Ein Großteil der amtierenden Bürgermeister berichtet zudem, dass sie auch ohne Beschlüsse des Rates viele Dinge gemeinsam mit der Verwaltung gestalten können. Allerdings: Wenn die Dezernenten gegen ihn sind, ist es noch mal ein anderes Machtgefüge.


Wieviel Einfluss hat der Bürgermeister auf die Besetzung der Dezernatsstellen?

Süß: Die Selektion der Bewerber ist sehr unterschiedlich. Normalerweise kommen die Vorschläge entweder aus politischen Netzwerken der Mehrheitsfraktionen oder aus der fachlichen Qualifizierung in der Verwaltung. Die Dezernenten werden dann durch den Rat gewählt. .


Wo sehen Sie die Einschränkungen in der Arbeit der Bürgermeister?

Süß: Zum Beispiel in Vorgaben des Landesrechts oder Europarechts. Es gibt auch politische und Verwaltungsverflechtungen mit dem Kreis und Behörden. Natürlich engen auch die finanzielle Lage einer Stadt und vor allem die allgemein beklagte Überbürokratiesierung in vielen Feldern die Handlungsfreiheit ein. Und nicht zuletzt, wie erwähnt, können die Machtverhältnisse im Rat den Bürgermeister-Job erschweren.


Wie realistisch ist eine eigenständige politische Agenda eines Bürgermeisters? Es macht ja einen Unterschied, ob ich die Programmatik einer Ratsfraktion vertrete oder als Einzelperson meine eigene.. Ist es da nicht eher vermessen, politische Versprechungen zu machen?

Süß: Es ist vor allem immer die Frage, ob die Ressourcen zur Verwirklichung einer politischen Idee in der Verwaltung vorhanden sind und ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Verwaltung motiviert werden können. In Bochum hat der dortige Bürgermeister Thomas Eiskirch mit der „Bochum-Strategie“ Visionen für die Stadt formuliert – nicht alleine, sondern gemeinsam mit anderen Entscheidungsträgern. Das Ergebnis war die Formulierung erreichbarer Ziele und Visionen. Die Aufgabe eines Bürgermeisters ist also auf keinen Fall unpolitisch, er kann politische Themen selbst setzen und Schwerpunkte formulieren. Wichtig ist die Machbarkeit eines Projektes, sonst wird er unglaubwürdig.


Mal ist es der Kandidat mit einer politischen Vision, mal der Kandidat ohne eine eigene Agenda – haben Sie eine Erklärung, warum die Menschen so wählen, wie sie wählen?

Süß: Das ist eine der Grundfragen in der Wahlforschung. Wahlverhalten kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Mal ist es schlicht eine Frage der Sympathie, mal die erlebte Ansprechbarkeit und Volksnähe des Kandidaten, mal die vermutete Kompetenz des Bewerbers. Wahlentscheidungen werden selten rein rational getroffen, das muss man wissen. So kann schon ein Wahlplakat einen unsympathischen Eindruck machen und die Wahlentscheidung emotional beeinflussen.


Was würden Sie einem Kandidaten für seinen Auftritt in der Wahlkampfphase empfehlen? Was sollte er tun, was sollte er nicht tun?

Süß: Wichtig ist, nahbar zu sein, mit den Leuten zu sprechen, sich als Person vorzustellen. Nicht davon auszugehen, dass die Menschen ihn kennen, das wird schnell als arrogant empfunden. Haustürbesuche haben einen höheren Effekt als der klassische Flyer im Briefkasten. Richtig ist, innovative Konzepte zu suchen, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen. Zündende Claims sind gut und man sollte in die Netzwerke der Stadtgesellschaft reingehen. Dort findet man auch Multiplikatoren für die eigene politische Idee.


Ist ein Bedeutungszuwachs von Bürgermeistern in den vergangenen Jahren erkennbar?

Süß: Ja! Die Literatur sagte immer, dass in Nordrhein-Westfalen der Bürgermeister wegen der Relevanz der politisierten Ratsfraktionen nicht so einflussreich sei. Unsere Befragungen ergeben, dass das gerade ein bisschen aufweicht. In der Polykrise der vergangenen Jahre war vor allem der Bürgermeister als Krisenmanager gefragt: Energiekrise, Finanzkrise, Flucht und Migration, Coronakrise. Dort gab es eine Verschiebung der Entscheidungsgewalt in Richtung der Verwaltung. Bürgermeister konnten vor allem während der Coronakrise mehr selbst entscheiden, da der Rat sich nicht in Person treffen konnte. Diese Verschiebungist immer noch zu erkennen.


Von welchen Problemen in der täglichen Arbeit berichten Ihnen die Bürgermeister am häufigsten?

Süß: Eingeschränkte Finanzmittel und Bürokratie. Die Finanzlage der Kommunen wird wohl auch noch schlimmer werden in den nächsten Jahren.


Worauf legen Bürgermeister in NRW nach Ihren Befragungsergebnissen das stärkste Augenmerk in ihrer Arbeit für ihre Stadt?

Süß: Da gibt es valide Ergebnisse: Ganz vorne ist das Thema Stadtentwicklung/Wohnraum, gefolgt von Bildung und Schule und die städtischen Finanzen. Aber das sind Durchschnittswerte und spiegelt sich nicht in jeder Stadt wider, da auch die Herausforderungen sich lokal unterscheiden können.


Bei den großen Themen der Nation – zum Beispiel Migration, Klima, Ukraine – spürt man ein gesteigertes politisches Interesse der Menschen. Bei der Kommunalpolitik haben wir Zweifel. Welche Erkenntnisse haben Sie?

Süß: Unsere Erkenntnis ist, dass das sinkende lokalpolitische Interesse mit der geringeren Relevanz von Lokalzeitungen zusammenhängt. Dort findet man ja die Berichterstattung über kommunalpolitische Themen. Die Mediennutzung verlagert sich aber in den digitalen Raum und auch in soziale Medien.. Die Informationskanäle haben sich geändert. Es stimmt, dass sich viele Menschen allgemein weniger für Kommunalpolitik interessieren, es gibt aber Politisierungsimpulse, wenn es um die eigene Betroffenheit geht: kein Kitaplatz, keine OGS, Müll vor der Tür und so weiter. Ich habe den Eindruck: Viele Menschen wissen gar nicht, was wo entschieden wird. Ihnen ist unser Mehrebenen-System gar nicht so bekannt.



Zur Person

Louisa Anna Süß ist seit Sommer 2021 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung und dem Lehrstuhl für Öffentliche Verwaltung, Stadt- und Regionalpolitik an der Ruhr-Universität Bochum. Dort forscht sie zu kommunalpolitischen Themen und hat mit Kollegen kürzlich ein Buch über ehrenamtliche Bürgermeister publiziert. In ihrer Dissertation untersucht sie das Führungsverhalten von Bürgermeistern in Deutschland mit einem Schwerpunkt auf Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg.

 

 

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