Nach Corona: Zurück zur Tagesordnung

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Stefan Krysiak / Montage: Lutz Hesker

14.07.2021

Nach Corona: Zurück zur Tagesordnung

 

Wie den Ausgang aus dunkler Zeit der Corona-Pandemie erleben wir gerade die neuen Freiheiten der umsichtigen Öffnung der Geschäfte und der Gastronomie, die Rückkehr zu den alten Arbeitsplätzen und die Wiedererlangung von Normalität in allen Bereichen unseres Lebens. Zeit, im „Stadtgespräch“ eine Corona-Bilanz zu ziehen. gt!nfo sprach mit der ersten Beigeordneten und Stadtkämmerin der Stadt Gütersloh Christine Lang und dazu mit dem Sprecher der Gütersloher Einzelhändler Rainer Schorcht. Ihre Stimmung nach der Krise: entspannt und optimistisch. Gütersloh auf dem Weg zurück zur Tagesordnung.


Interview: Markus Corsmeyer und Heiner Wichelmann

Fotos: Sebastian Krysiak

Grafische Bearbeitung: Lutz Hesker



Frau Lang, Corona hat gelähmt und wirkte gleichzeitig wie ein Turbo. Flexibilität, Sofortmaßnahmen, Überstunden, 24/7-Erreichbarkeit: Hat sich die Organisation des Stadtmanagements durch Corona für die Zukunft geändert? Was ist die wichtigste Erfahrung aus der Coronakrise für die Stadt?


Lang: Es muss nicht alles neu gedacht werden, es ist nicht so, dass Corona die Welt verändert hat. Als Corona zum Stillstand führte und unsere wichtigste Aufgabe vor Ort war, die richtigen Maßnahmen zu treffen, um die Menschen vor der Ansteckung zu schützen, mussten gleichzeitig auch die Grundfunktionen der Stadt aufrechterhalten werden. Das war eine außerordentliche Herausforderung, die besondere Lenkungsmaßnahmen erforderte. Wir haben umgehend einen Führungskreis etabliert, in der die Verwaltungsspitze und einzelne Vertreter der für die Corona-Bekämpfung wichtigsten Dezernate mitarbeiteten. Dafür gab es anfangs sogar eine Stabsübung, um entsprechende Erkenntnisse für die effektivste Form der Zusammenarbeit zu finden mit dem Ziel, möglichst flexibel und schnell auf die jeweilige Lage reagieren zu können. Anfangs saßen wir täglich zusammen, später dann zwei bis dreimal in der Woche. Das hat sich bewährt, aber letztlich war dies auch nichts Neues – als 2015 die Flüchtlinge zu uns kamen, haben wir schon ähnlich gearbeitet.


Sie sehen also die Stadt Gütersloh für die Bewältigung auch extremer Sondersituationen grundsätzlich gut aufgestellt?


Lang: Ja, wir brauchen die Verwaltung nicht neu erfinden, wenn wir mit Herausforderungen wie der Corona-Pandemie konfrontiert sind. Natürlich müssen wir der Situation gerecht werden, sehr schnell handeln und entscheiden. Und das können wir auch. Das gewohnte Verwaltungsgeschäft sieht in normalen Zeiten aber anders aus. Corona hat nicht alles anders gemacht.


Das werden manche bedauern. Oft wird kritisiert, dass Entscheidungsprozesse in der Verwaltung zu lange dauern. Hat Corona nicht gezeigt, dass es schneller geht, wenn es muss?


Lang: Verwaltungsentscheidungen müssen demokratisch legitimiert sein, das heißt, es wird jeder gehört und beteiligt, der in einer Sachentscheidung involviert ist. Wir sollten nicht den Fehler begehen, Entscheidungen von oben herab als den besseren Weg zu sehen, das führt zu Unfrieden und entspricht auch nicht unserem Verständnis von Demokratie.


Hat die Corona-Zeit an anderer Stelle einen Modernisierungsschub in der Verwaltung ausgelöst beziehungsweise bestärkt?


Lang: Jedenfalls keinen, der ohne Corona nicht auch schon vorher begonnen worden wäre. Formen der bereichsübergreifenden Zusammenarbeit in der Verwaltungsorganisation und die konsequente Umstellung auf Digitalisierung der Verwaltungsabläufe und der Schnittstellen zur Bevölkerung sind keine Corona-Erfindung, wenngleich wir die IT-Umstellung situationsbedingt in Rekordzeit umgestellt haben. Gütersloh wurde ja auch schon vor Corona in das „Smart City“-Förderprogramm des Bundes aufgenommen.


Es gibt also keine wesentlichen Erkenntnisse aus der Coronakrise für einen Reformbedarf bei den  Verwaltungsprozessen?


Lang: Doch, es gibt Erfahrungen, aus denen wir gelernt haben. Zum Beispiel gibt es einen Verbesserungsbedarf in der überörtlichen Koordination mit dem Kreis und mit Unternehmen. Die fehlenden Daten zu den Tönnies-Mitarbeitern und ihren Wohnungen in unserer Stadt waren schon ärgerlich. Das hat uns viel Zeit gekostet. Und was wir wohl alle mitbekommen haben, ist, dass unser Wohlstand, unser Leben, auch etwas fragil ist. Da sind manche Zweifler, Zögerer und Zauderer jetzt still geworden, wenn ich an die früheren Diskussionen zum Beispiel um die digitale Entwicklung in den Schulen denke.


Neben dem Lockdown der Geschäfte war vor allem die Aufrechterhaltung des Schulunterrichts im Fokus der Coronamaßnahmen – Stichworte Digitalisierung und Onlineunterricht. Welches Fazit ziehen Sie hier?


Lang: Natürlich war es am Anfang schwierig, es gab ja keine Blaupause für die Maßnahmen in einer Pandemie. Aber wir haben es in den Griff bekommen, es gab Unterstützungsprogramme von Bund und Land, auch von Unternehmen, und wir haben als Stadt eng mit den örtlichen Schulen zusammengearbeitet. Heute sind unsere Schulen gut versorgt. Bei der Digitalisierung hat uns geholfen, dass wir schon vor der Coronakrise damit gestartet waren, sonst hätten wir Probleme gehabt. Inzwischen sind 4.500 iPads an Schüler und 930 an Lehrer ausgegeben worden, dazu kommen die Klassensätze für die Grundschüler. Was wir vor vielen Jahren bereits wollten, das haben wir jetzt umgesetzt. Das WLAN-Netz ist ausgelegt, annähernd alle Schulen sind an Glasfaser angeschlossen. Wir sind da kurz vorm 100-Prozent-Ziel.


Die Lernentwicklung in Schulen soll sich deutlich verlangsamt haben, manche Experten befürchten, dass ein signifikanter Teil der Grundschüler ihre Lernlücken kaum wieder aufholen könnten. Sehen Sie dieses Problem auch in Gütersloh?


Lang: Nein, wir neigen ja immer zu einem Alarmismus. Zum Beispiel von einer verlorenen Generation zu sprechen, halte ich für übertrieben; wir sollten die Dinge nicht schlechter reden, als sie sind. Klar ist aber, es gibt Unterstützungsbedarf und wir begleiten natürlich aktiv die Bundesprogramme für Schüler, die mit dem Fernunterricht nicht so gut zurechtkamen.


Wie bewerten Sie die Zusammenarbeit unserer Krankenhäuser und das Niveau der medizinischen Versorgung in der Corona-Zeit?


Lang: Die Botschaft ist, dass die Krankenhäuser sich gut unterstützt haben. Das Elisabeth-Hospital hat Patienten aus dem Klinikum aufgenommen, umgekehrt unterstützte das Klinikum das Hospital mit Vakzin-Dosen. Unsere aktuelle Benchmark sind die Häuser im Clinotel-Krankenhausverbund, zu dem auch unser Klinikum gehört. Danach ist die Sterbequote in unserem Haus signifikant niedriger ist als in den anderen Häusern. Das hohe Niveau unserer medizinischen Versorgung ist eben auch messbar.


Die positive Entwicklung bei den Gewerbesteuereinnahmen hat letztlich verhindert, dass sich Gütersloh durch Corona verschulden musste. Noch mal Glück gehabt?


Lang: Wir sind sehr gut durchgekommen, aber es gab 2020 schon eine dramatische Achterbahnfahrt. Nachdem die Unternehmen ihre Gewerbesteuerzahlungen der Corona-Situation angepasst hatten, lag das sogenannte Anordnungssoll mit Blick auf das Jahresende bei 31 Millionen Euro, wir hatten aber 80 Millionen Euro im Haushaltsplan angesetzt. Schon im vierten Quartal lagen wir dann bei 60 Millionen, inzwischen sogar bei 124 Millionen für 2021. Wir stehen heute so gut da wie vor der Krise, vielleicht sogar ein bisschen besser. Vieles wird eben nicht so heiß gegessen wie befürchtet, so die Erfahrung, aber es können eventuell auch investive Vorzieheffekte dazu führen, dass die gute Entwicklung wieder zurückgehen wird. Im Übrigen hat der Bund ja auch richtig gepowert und so ist die befürchtete Insolvenzwelle ausgeblieben. Einzelne hat es hart getroffen, aber nicht die Masse. Viel größere Sorgen müssen wir uns in Zukunft bei anderen Wirtschaftsfaktoren machen. Die Energiewende und die Rohstoffknappheit werden uns viel mehr beschäftigen.


Schorcht: Ich möchte an dieser Stelle einen Dank an die Gütersloher Einzelhändler und Bürger aussprechen. Sie haben zusammengehalten. Die Händler haben eine echte Sonderleistung erbracht und enorm viele Hürden abgearbeitet – Stichworte negativer Test, Masken, Desinfektion, Spuckwände, Terminorganisation über Click und Collect und so weiter. Man muss sich mal vor Augen führen, dass diese vielen Hürden ja lediglich für die 40 Prozent des Einzelhandels galten, nämlich die Geschäfte in der Innenstadt. Die haben die Hauptlast für die Gesundheit der Menschen erbracht, nicht der Lebensmittelhandel, der seine Non-Food-Sortimente auf Kosten der Innenstadtgeschäfte sogar noch ausbauen durfte – Beispiel Schuhe. Trotz dieser Erschwernisse hat sich der Innenstadthandel nicht unterkriegen lassen, hat mit Click & Collect beziehungsweise mit Onlineverkauf Flagge gezeigt. Das war toll. Dass aber letztlich der ferngesteuerte Internethandel nicht gerade zur Verbesserung der Struktur des Einzelhandels im Kreis Gütersloh beigetragen hat, ist klar.


Was haben Sie selbst für Ihr Geschäft durch Corona gelernt?


Schorcht: Ich musste feststellen, dass die Beschränkung des Verkaufs auf die Bürger im Kreis Gütersloh im Jahr 2020/21 überholt ist. So zu arbeiten, ist nicht mehr richtig. Die Menschen schauen heute nach, ob sie dasselbe Produkt vielleicht besser woanders in Deutschland kaufen können. So ist jetzt der Standard und wir müssen darauf reagieren. Wir haben daher in eine neue Warenwirtschaft investiert. Meine Einkaufsorganisation, die Unite Imaging Group – das sind 1.600 Händler in Deutschland, Österreich und Holland – bietet einen Onlineshop, wo jedes Mitglied, also auch wir, alle Produkte präsentieren kann. Wer bestellt, erhält unsere Ware innerhalb von 24 Stunden zugestellt – und kann sich auf unsere Beratungskompetenz vor Ort verlassen.


Sie verfügen über eine Einkaufsorganisation, an der Sie sich dranhängen können. Was aber macht zum Beispiel das ganz normale Textileinzelhandelsgeschäft um die Ecke? Was raten Sie ihm?


Schorcht: Das Minimum ist: Man muss bei Google gefunden werden. Deswegen rate ich ganz dringend: Bitte registriert euch dort. Wer dort gefunden wird, hat eine Chance, im Geschäft zu bleiben, denn der Onlinehandel nimmt dem stationären Geschäft im Schnitt 20 Prozent des Umsatzes weg. Das ist schon spürbar, trotz der Nachteile des Onlinekaufs, die es ja auch gibt.


Wieviel Prozent des Umsatzes erreichten die Gütersloher Händler eigentlich noch über Click & Collect?


Schorcht: Etwa ein Fünftel. Da haben sich auch viele überlegt, lieber zu schließen, um nicht die Fördergelder zu gefährden. Aber ich möchte den Blick gerne nach vorne richten. Meiner Meinung nach hat Gütersloh gerade die Chance, der attraktivste Standort in Ostwestfalen neben dem Oberzentrum Bielefeld zu werden. Wir haben einen wunderbaren Handel mit dem gesamten Angebot, was Sie brauchen. Es gibt kaum noch Leerstände und auch das Karstadt-Problem ist mit Sinn-Leffers erst mal für zwei Jahre gelöst. Wenn man sieht, dass Bielefeld durch die fürchterliche Verkehrssituation seine Aufgabe als Oberzentrum gerade nicht wahrnimmt, ist Gütersloh geradezu phantastisch aufgestellt. Es wird auch viel im Bereich der Immobilien investiert. Wir sind nach wie vor Zuzugsgebiet und Stadt und Einzelhandel arbeiten gut zusammen. Wir nähern uns in Gütersloh wieder der alten Normalität. Gottseidank hat es keine Insolvenzwelle durch Corona gegeben und sie wird auch nicht mehr kommen. Die Zahl der Betriebe, die wegen der Pandemie aufgeben mussten, ist verschwindend gering.


Lang: Davon bin ich auch überzeugt. Unser aktueller Weg – das Re-Start-Programm mit günstigem  Parken und Busfahren sowie etlicher Kulturangebote – hilft, die Menschen wieder zurück in die Innenstadt zu holen.


Schorcht: Für die Gütersloher Händler kann ich eine Aktion ankündigen, die Heimat-Shoppen heißen wird. Wir wollen darin verdeutlichen, dass es in jeder Branche eine Freundin oder einen Freund hinter dem Verkaufstresen gibt. Das ist nämlich die Verkäuferin und der Verkäufer des Vertrauens, die sind viel mehr Wert ist als die gefakten Bewertungen im Internet.


Bei aller Vorsicht – Stichwort Delta-Variante –, steht Gütersloh vor einer Wachstumsphase? Ist Corona letztlich auch ein Wachstumstreiber?


Lang: Corona als Wachstumsschub, den man sonst nicht gemacht hätte, das sehe ich nicht. Wir waren schon vorher gut unterwegs. Ich glaube auch nicht, dass wir vor einem gesellschaftlichen Umbruch stehen. Letztlich sehnen sich die Menschen nach der alten Routine. 

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