Gütersloher Tafel in großer Sorge

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Heiner Wichelmann

28.09.2022


Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation, Energiekosten – auch bei den Tafeln kommen diese Krisen an. Wer ohnehin schon wenig hatte, ist jetzt noch mehr auf Unterstützung angewiesen. Doch reichen die Lebensmittel-Spenden, die finanziellen Mittel und das Personal der Tafeln, um allen gerecht zu werden? Die Sorgen der Gütersloher Tafel an der Kaiserstraße 38 werden größer. Geschäftsführerin Ruth Prior-Dresemann erzählt im gt!nfo-Stadtgespräch, warum.

 

Interview: Heiner Wichelmann

 

Frau Prior-Dresemann, wofür ist die Gütersloher Tafel da, was leistet sie täglich und wie sieht die augenblickliche Situation für Ihren Verein aus?

 

Ruth Prior-Dresemann: Was wir machen, fassen wir in unserem Vereins-Claim zusammen: Wir sammeln ein und wir teilen aus – und zwar Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs. Zielgruppe sind von uns identifizierte Bedürftige: Hartz IV-Empfänger, Alleinerziehende, Geringverdiener, Obdachlose, mittellose Rentner, Familien, die kurzfristig in eine Schieflage geraten sind und andere. Wir arbeiten dabei auf Kreisebene, unsere 54 Verteilstellen – meistens sind es kirchliche Einrichtungen, die wir nutzen können – sind über das ganze Kreisgebiet verteilt, so dass alle Bedürftigen auch erreicht werden können. Diese zahlen einen festen Obolus je nach Familiengröße gestaffelt, für die ausgegebenen Lebensmittel. Uns gibt es seit genau 25 Jahren – wir starteten 1997 mit damals 15 ehrenamtlichen Helferinnen und Helfern. Heute zählen wir 818 Mitglieder, davon mehr als 450 ehrenamtlich aktiv tätig und erreichen aktuell 4.600 Empfängerinnen und Empfänger, hiervon cirkla 40 Prozent Kinder – so viele wie noch nie zuvor. 40 bis 50 Prozent aller Kunden haben Migrationshintergrund oder sind Flüchtlinge. Allein in den vergangenen drei Monaten kamen kreisweit rund 1.000 Bedürftige neu hinzu. Mindestens die Hälfte von ihnen stammt aus der Ukraine. Wir teilen hier vom Zentrallager an der Kaiserstraße an drei Tagen in der Woche aus, kreisweit kommen wir monatlich auf 120 bis 130 Tonnen Lebensmittel – das sind Produkte, die kurz vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeits-Datums stehen, Obst und Gemüse mit kleinen Schönheitsfehlern und Waren, die nicht verkauft werden konnten. Allein für unsere acht Kühl-Transporter, mit denen wir neue Ware abholen und die Verteilstellen im ganzen Kreisgebiet versorgen, brauchen wir mehr als 1.400 Liter Benzin monatlich.

 

Mehr Bedürftige und gleichzeitig bedrohlich steigende Energiekosten: Wie ernst ist die Situation für die Tafel?  

 

Prior-Dresemann: Sie ist definitiv sehr ernst. Wenn der Zuwachs an Neukunden anhält, brauchen wir Lösungen für mehr Geld, mehr Ehrenamtliche, mehr Lebensmittel. Das größte Problem aber sind jetzt die extrem steigenden Kosten für Gas, Strom und Diesel. Ein Beispiel: Der Stromeinsatz für die Kühlung in unseren Kühlhäusern – da brauchen wir eine Temperatur von 4 bis minus 18 Grad Celsius – kostet uns bisher jährlich 40.000 Euro.

Wir können nicht davon ausgehen, dass staatliche Hilfen, die es vielleicht geben könnte, diese Mehrkosten decken werden. Wir sind daher dringend auf zusätzliche Geldquellen angewiesen.

 

Können Sie die 4.600 Menschen, die bei Ihnen für Lebensmittel anstehen, überhaupt komplett versorgen?

 

Prior-Dresemann: Leider nicht. Es tut einem manchmal in der Seele weh, aber immer häufiger reichen die Mengen nicht und wir müssen in einigen Verteilstellen Neuanmeldungen – bei uns immer dienstags morgens – zurückweisen. Sie kommen dann auf die Warteliste. Das ist ein Kompromiss, der uns nicht glücklich macht. Wir können auch nicht mehr überall die Menschen wöchentlich versorgen, sondern müssen vermehrt auf einen 14-tägigen Rhythmus umstellen, das heißt, die Bedürftigen erhalten nur noch alle zwei Wochen eine von uns portionierte Lebensmittelausgabe.

 

Sie haben also heute weniger Lebensmittel zur Verteilung zur Verfügung als früher? Woran liegt das?

 

Prior-Dresemann: Ein Grund ist, dass wegen der Inflation die Discounter genauer kalkulieren, die Überbestände reduzieren sich dadurch. Außerdem werden wir alle als private Verbraucher sparsamer und vorsichtiger beim Einkauf. Wir bekommen also auch von privater Seite deutlich weniger Lebensmittelspenden als früher. Übrigens betreiben wir nicht alleine Akquise. Da helfen auch unser Bundes- und unser Landesverband, die zum Beispiel den Kontakt zu bundesweiten Organisationen, Discountern und Unternehmen pflegen.

 

Hier im Kreisgebiet sollten Sie doch auf offene Ohren stoßen, wenn Sie die Betriebe bitten, ihre Lebensmittel bei Nichtverkauf nicht wegzuwerfen, sondern der Tafel zur Verfügung zu stellen?

 

Prior-Dresemann: In der Regel ist das auch so, die Spendenbereitschaft der Betriebe ist groß. Aber es gibt immer noch Betriebe, die nicht mit der Tafel zusammen arbeiten und lieber die Lebensmittel vernichten.

 

Ihr Bundesverband macht sich für ein Lebensmittelspendengesetz stark. Es soll verboten werden, unverdorbene und noch zum Verzehr geeignete Waren wegzuwerfen.

 

Prior-Dresemann: Ja, diese Forderung bezieht sich auf die EU-Agenda 2030: Darin geht’s auch um den Umgang mit Lebensmitteln. Ziel ist, dass Lebensmittel nicht mehr weggeworfen oder vernichtet werden dürfen, sondern freiwillig an gemeinnützige Organisationen verteilt werden sollen. In Deutschland muss die Agenda 2030 noch gesetzlich umgesetzt werden, was die Bundesregierung hoffentlich auch plant. Aber so weit sind wir noch nicht. In Frankreich zum Beispiel und auch in Tschechien und in Italien ist es Betrieben ab einer bestimmten Größe bereits untersagt, Lebensmittel zu vernichten.

 

Aus welchen Quellen kommen eigentlich die finanziellen Mittel, mit denen Sie arbeiten können?

 

Prior-Dresemann: Zum einen sind das Spenden von Discountern und Lebensmittelproduzenten oder Geld- und Sachspenden von Unternehmen, Privatpersonen und Vereinen. Zum anderen müssen unsere Bedürftigen auch einen kleinen Beitrag für die Lebensmittelausgabe zahlen, die Höhe ist, wie gesagt, bei jeder Tafel unterschiedlich. Staatliche Mittel gibt es nicht. Wir organisieren hier alles auf ehrenamtlicher Grundlage, wobei wir mit mir selbst als Geschäftsführerin insgesamt drei Vollzeitkräfte beschäftigen, dazu kommen noch Teilzeitkräfte und auch Männer und Frauen aus dem sozialen Arbeitsmarkt – also Langzeitarbeitslose, die uns von den Jobcentern vermittelt werden und für eine Mehraufwandsentschädigung von 1,50 Euro arbeiten.

 

Der Vorsitzende des Dachverbands der Tafeln in Deutschland, Jochen Brühl, sagte neulich, dass der Staat sich beteiligen müsse, wenn Organisationen wie die Tafeln eine gesellschaftliche Aufgabe mit übernehmen. Sehen Sie das hier im Kreis Gütersloh auch so?

 

Prior-Dresemann: Es war bisher nicht so angelegt, dass wir als ehrenamtliche Organisation eine direkte Unterstützung durch den Kreis oder die Stadt erhalten. Allerdings glaube ich schon, dass wir sagen können, dass wir ein Stück weit für den sozialen Frieden sorgen und somit eine wichtige Aufgabe für die Gesellschaft leisten. Dafür sollte es eigentlich eine Unterstützung geben. Hilfsbedürftigen Menschen muss geholfen werden. Dafür gibt es hier in Gütersloh auch eine gewisse Infrastruktur: die Suppenküche, die Bahnhofsmission mit der Kaffee- und Kuchenausgabe, das Haus Nordhorn, die Caritas und so weiter. Das sind übrigens alles Einrichtungen, die von uns zum Teil Lebensmittel bekommen. Aber wir sind am Limit und wir stehen vor finanziell äußerst schwierigen Zeiten.

 

Haben Sie, beziehungsweise die Tafeln in der Region, schon mit der Politik Kontakt aufgenommen?

 

Prior-Dresemann: Es waren schon einige Politiker hier vor Ort und haben sich über unsere Arbeit informiert beziehungsweise wissen um die Problematik. Die Preissteigerungen machen uns einfach zu sehr zu schaffen. Die Unterstützung durch die Öffentliche Hand wäre wünschenswert, ja.

 

Bemüht sich auch Ihr Bundesverband um politische Unterstützung?

 

Prior-Dresemann: Es gibt eine ganze Reihe politischer Forderungen und Ideen, die vom Bundesverband der Tafeln vorgetragen werden. Dazu gehören zum Beispiel Steuererleichterungen wie bei der KFZ-Steuer und die Erleichterung für Unternehmen mit den Tafeln zusammen zu arbeiten. Ehrenamtliche Arbeit hat ihre Grenzen, sie muss, so ist unsere Überzeugung, auch staatlich abgesichert sein. Hier war der Vorschlag, dass gemeinnützige Tätigkeiten bei den Rentenpunkten angerechnet werden könnte.

Andererseits muss man auch wissen: Tafeln sind nicht im Sozialgesetzbuch verankert, weil es eine zusätzliche Leistung ist. Dadurch gibt es auch keine Pflicht, uns zu unterstützen. Übrigens versucht unser Landesverband aktuell, Gelder vom Land zu bekommen, um sie dann bedarfsgerecht an die Verteilzentren der Tafeln zu verteilen.

 

Zurzeit wird an einem neuen Dach für Ihr Hauptgebäude an der Kaiserstraße gearbeitet, nachdem es durch Starkregen zu erheblichen Wasserschäden an der alten Decke kam. Denken Sie darüber hinaus noch an weitere Investitionen?

 

Prior-Dresemann: Ja, wir planen jetzt eine große Photovoltaikanlage auf der neuen Dachfläche. Wir werden das über Kredite finanzieren müssen.

 

Flüchtlingswellen, Niedriglohnsektor und aktuell noch Hartz IV: Was ist bei all dem Ihre größte Sorge?

 

Prior-Dresemann: Dass die Teilhabe der bedürftigen Menschen, vor allem der Kinder, am gesellschaftlichen Leben immer schwieriger wird. Das Geld reicht in der Regel, um die Wohnung zu bezahlen und um Essen zu können. Aber dann wird es schwierig. Wissen Sie, dass ein Hartz IV-Empfänger bis heute gerade einmal 150 Euro im Jahr pro Kind für die Bildung erhält? Dieses muss extra beantragt werden - was nicht jeder weiß. Im monatlichen Satz sind für Bildung 0,38% vorgesehen - ca. 1,50 €. Wie soll das funktionieren? Dabei ist es so wichtig, Kinder zu fördern, damit sie später mal einen Beruf ergreifen, Geld verdienen und dadurch auch Steuern bezahlen können. Das ist wirklich meine größte Sorge, dass die Zukunft vieler Kinder bedroht ist.

 

Gibt es Momente, wo Sie wütend werden können angesichts der Situation?

 

Prior-Dresemann: Ich möchte es so ausdrücken: Es bestärkt mich in meiner Arbeit. Sie ist notwendig.

 

Was ist Ihr größter Wunsch?

 

Prior-Dresemann: Ich wünsche mir sehr, dass noch mehr Betriebe sich entscheiden mit uns zusammenzuarbeiten. Denen möchte ich sagen: Sprechen Sie uns an! Und wir freuen uns über jede Spende, damit wir unsere Arbeit aufrechterhalten und möglichst viele Menschen mit Lebensmitteln versorgen können.

 

 

Kontakt

Gütersloher Tafel

Geschäftsstelle und Zentrallager

Kaiserstr. 38

33330 Gütersloh

Tel. 05241 39010

www.gueterslohertafel.de

info@gueterslohertafel.de

 

Unsere Website verwendet Cookies. Bleibst Du weiter auf unserer Website, scheinst Du nicht nur von der Seite begeistert zu sein, sondern stimmst auch der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen findest Du hier