„Wir sind erschüttert“

Markus Corsmeyer

Autor: Markus Corsmeyer

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Heiner Wichelmann

01.04.2022

Russlands Krieg gegen die Ukraine hat auch beim Forum Russische Kultur Gütersloh e.V. für Entsetzen gesorgt. Das friedenspolitische Lebenswerk seines verstorbenen Ehrenvorsitzenden Franz Kiesl und seiner vielen Mitstreiter droht zerstört zu werden. gt!nfo sprach mit dem 1. Vorsitzenden des Forums Dr. Günter Bönig über die Folgen des Krieges für die Arbeit und Zukunft seiner Organisation. Wir haben das Gespräch in fünf wesentlichen Themenblöcken zusammengefasst.

 

Interview: Heiner Wichelmann

 

Der Schock über den Krieg in der Ukraine

„Der flächendeckende Angriff Russlands auf die Ukraine hat uns völlig überrascht, wie die meisten Beobachter in West und Ost. Wir sind erschüttert über die menschlichen Schicksale in der Ukraine, auch über die unfassbaren, sinnlosen Zerstörungen, die dort angerichtet werden. Das Forum Russische Kultur verurteilt entschieden den Angriff und fordert dessen sofortige Beendigung, damit nicht noch mehr Menschen sterben. Der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine ist völkerrechtswidrig, bringt unendliches Leid über die Menschen der Ukraine, er gefährdet den Weltfrieden und schadet am Ende Russland selbst.“

 

Rückblick auf die Arbeit des Forums Russische Kultur

„Von 1991 bis 2019 sind Tausende Menschen in Gütersloh mit russischer Kultur in Kontakt gekommen, allein 3.000 Teilnehmer sind mit den Forum-Reisen seit 2004 nach Russland gefahren, haben Land und Leute lieben gelernt: St. Petersburg, das Amsterdam des Ostens mit Forum-Kontakten bis in das Kulturkomitee der Stadt, das uns im Sommer 2019 die Gratiskonzerte der Jungen Stimmen in Gütersloh schenkte; Moskau, das gigantische Wirtschafts- und Kulturzentrum in seiner Vielfalt und atemberaubenden Entwicklung; Irkutsk, das Traumziel am Baikalsee, in den letzten Jahren sogar mit der Transsibirischen Eisenbahn 3 1/2 Tage durch die unermesslichen Weiten Russlands; Kasan, der freundliche Schmelztiegel der Kulturen von West und Ost, die dritte Metropole Russlands am weiten Wolgastrom; und Taganrog, die herzliche Stadt am Asowschen Meer, die Geburtsstadt Tschechows, wo das Forum fast schon einen diplomatischen Status gewonnen hatte, organisiert durch unser Ehrenmitglied Natalia Petrovskaya. Überall wurde das Forum von persönlichen befreundeten Organisatoren und Reiseleitern begrüßt, wir wurden behandelt, als gehörten wir zu einer großen Familie. Russland hatte einen guten Namen in Gütersloh: der Rossika-Chor, das Vokalensemble Anima, das Trio Artos aus St. Petersburg; die Chöre aus Rostov am Don und Taganrog, sowie der Akkordeonweltmeister Alexander Poeluev; die jedes Jahr wieder neue Russische Weihnachtsrevue Ivushka, die viele Zuschauer regelmäßig zur Einstimmung auf das Weihnachtsfest besuchten. Aufgrund einer Initiative von Franz Kiesl kam die Russische Nationalphilharmonie mit Vladimir Spivakov regelmäßig jedes zweite Jahr nach Gütersloh, zuerst eine Sensation, später als selbstverständlich betrachtet, zu viel günstigeren Eintrittspreisen als in Hamburg, Berlin, München, Stuttgart, Frankfurt oder Essen. Denn es hatte sich ein gemeinsames Projekt entwickelt: Völkerverständigung. Die jungen Musiktalente der Spivakov-Stiftung kamen jedes zweite Jahr nach Gütersloh, um sich in den Schulen des Kreises Gütersloh vorzustellen. Forum-Ehrenmitglied Vladimir Spivakov, UNO-Künstler des Friedens, hat sich übrigens sofort vom Angriff auf die Ukraine distanziert. Im jährlichen Wechsel reisten die jungen Musiktalente der Stiftung Neue Namen (gegründet ehedem von Raissa Gorbatschowa u.a.) aus Moskau an, Hauptpartner des Forum in Russland, seit 1998. Auch sein Präsident, der weltweit gefeierte Klaviervirtuose Denis Matsuev, gastierte in Gütersloh und wurde mit brausendem Applaus verabschiedet. Kein Wunder, dass der ehemalige Russische Generalkonsul Jewgenij Schmagin 2017 Gütersloh den Titel einer „Russischen Kulturhauptstadt in Deutschland“ verlieh, und Botschafter Vladimir Grinin das Forum als „eine der wichtigsten Drehscheiben für den kulturellen und gesellschaftlichen Austausch für die Menschen in Deutschland und Russland“ bezeichnete.“


 

Es gibt noch Kontakte zu den Freunden in Russland                                 

„Die meisten Kontaktkanäle nach Russland funktionieren noch. Wir fragen uns allerdings, wie offen wir noch kommunizieren dürfen angesichts der Gefahr für die Russen, bei der Verwendung bestimmter Begriffe wie “Krieg“ langjährige Haftstrafen zu gewärtigen. Wir versuchen, unsere Freunde einfach zu Wort kommen zu lassen. Die Sorgen sind groß, allerdings vorrangig pragmatisch auf die sich rapide verschlechternde Versorgungslage fokussiert. Einige haben an Demonstrationen gegen den Krieg teilgenommen, einer war auch kurzfristig im Gewahrsam des FSB, des Inlandgeheimdienstes der Russischen Föderation, ein anderer will auswandern; aber je näher die Russen an der langjährigen Konfliktzone im Donbass leben, desto häufiger wurde ein Militäreinsatz befürwortet, wenn auch nicht im gegenwärtigen Umfang. Es war hier lange schon auf eine Lösung für den Donbass gewartet worden, wo auf beiden Seiten 15.000 Menschen seit 2014 umgekommen sind und circa 1 Million Menschen jeweils nach Osten beziehungsweise Westen vertrieben wurden.“

 

Die Fundamente sind erschüttert

„Es steht zu befürchten, dass das große Aufbauwerk der kulturellen und menschlichen Beziehungen der letzten 30 Jahre, Franz Kiesls Lebenswerk, jetzt an dem Krieg zerbrechen könnte. Seit zwei Jahren sind sämtliche Kontakte wegen Covid eingefroren gewesen, wir mussten sogar unsere Feier des 30-jährigen Jubiläums absagen, und es scheint uns jetzt eine noch längere Eiszeit zu drohen. Die Akzeptanz für alles Russische ist mit diesem Krieg auf einem historischen Tief angekommen. Wir mussten die Auftritte des Vokalensembles Anima im April in Gütersloh und Rietberg angesichts der neuesten Entwicklung absagen. Auch die weiteren großen Konzerte dieses Jahres wurden aus Russland abgesagt: die Kasaner Nationalphilharmonie Tatarstan und die Russische Weihnachtsrevue Ivushka. Man kann auf absehbare Zeit einfach keine Perspektive erkennen. Trotz der Probleme, die die bisherige Arbeit des Forum im Augenblick unmöglich machen, sind Vorstand und Beirat sich einig, dass die Kontakte aufrechterhalten werden sollen, um nach einer Friedensregelung die alten Aktivitäten wieder aufzunehmen. In der Corona-Zeit haben wir bereits virtuelle Formate entwickelt, die die Realbegegnung aber nicht ersetzen können. Die Brücken, die das Forum gebaut hat, existieren noch, die Fundamente sind aber erschüttert. Wir müssen natürlich auch die Mitglieder mit ins Boot nehmen, da wird die nächste Mitgliederversammlung im Herbst entscheidend mitwirken.“

 

„Nur Diplomatie mit echter Kompromissbereitschaft kann eine Lösung bringen“

„Das Forum hat sich immer als Kulturverein begriffen und von politischen Stellungnahmen abgesehen. Dennoch haben wir uns veranlasst gesehen, in dieser Ausnahmesituation eine politische Position zu beziehen. Aber es kommt uns nicht zu, einen Kompromissvorschlag zu machen. Allerdings gibt es an sich schon lange eine Lösung, die nur nicht umgesetzt worden ist, den Minsk II-Vertrag: Diesen haben Macron und Merkel 2015 vermittelt, beide Seiten haben zugestimmt, die UNO hat diesen Vertrag abgesegnet. Er sieht neben der Demilitarisierung der Grenzregionen Autonomierechte im Donbass vor, so wie es in Mitteleuropa auch Autonomiegebiete beziehungsweise Minderheitenschutz an den Grenzen gibt, zum Beispiel in Südtirol, Eupen-Malmedy, Südschleswig. Nur ist der Vertrag eben nicht umgesetzt worden, auch darum gingen die letzten gescheiterten Verhandlungen vor Kriegsbeginn. Ich kann nicht sehen, wie der Krieg hier eine größere Kompromissbereitschaft gebracht haben könnte. Ganz gleich, wer diesen Krieg gewinnt, die Verhandlungen werden schwerer werden. Es fehlt hier das Bewusstsein für und auch oft die Kenntnis der Geschichte, der früheren wie auch der jüngsten Geschichte. Osteuropa war nie der homogene Raum, den wir während des Kalten Krieges erlebten. Rivalitäten und Erbfeindschaften gab es dort schlimmer als in Westeuropa, zwischen den russischen Großfürsten, mit Polen, mit Groß-Litauen. Besonders schlimm war die Lage zwischen Russland und der Ukraine nach der Oktoberrevolution: 1920/21 fanden dort viele Schlachten zwischen den Bolschewisten und der weißen Gegenrevolution statt. Die Sieger waren jeweils nicht zimperlich. Stalins Kollektivierungskampagne (ab 1928) gegen die Kulaken hatte einen Schwerpunkt in der Ukraine, weil es dort viele Großbauern gab. Durch den Stalinterror sind in der Sowjetunion circa 15 Millionen Menschen umgekommen, davon ein Großteil durch die Kollektivierung und die folgende Hungersnot 1932/33, eben mit Schwerpunkt in der Ukraine. Deswegen schlossen sich viele ukrainische Männer 1941 als Hilfstruppen der Deutschen Wehrmacht an, kämpften also gegen die Sowjetunion, und es gab auch eine ukrainische SS-Division. Bei Kriegsende haben die Sowjets Rache genommen. In dieser Zeit haben die Ukrainer viel einstecken müssen, und viele Rachegefühle aus dieser Zeit sind verständlich, obwohl die Russen vom Stalin-Terror im Prinzip auch betroffen waren. Es gibt zwischen den Menschen der Ukraine und Russlands sowohl unzählige verwandtschaftliche Beziehungen und freundschaftliche Gefühle als auch einen abgrundtiefen Hass. Und dennoch kann nur Diplomatie mit echter Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten eine tragfähige Lösung bringen.“


INFO

 

Das Forum Russische Kultur Gütersloh e.V. wurde 1991 unter Mitwirkung von Franz Kiesl gegründet und von 1993 bis 2017 von ihm als 1. Vorsitzender aufgebaut. Vor der Pandemie wurden jedes Jahr 10 bis 15 Konzerte gegeben, herausragend war dabei die Russische Nationalphilharmonie. Jedes Jahr wurden vier Reisen angeboten, nach St. Petersburg, Moskau, Irkutsk, Taganrog oder Kasan. 2020 hatte das Forum 446 Mitglieder, 2022 nur noch 374. Von 2017 bis 2020 war Thomas Fischer 1. Vorsitzender. Seit 2020 besteht der Vorstand aus Dr. Günter Bönig (1. Vorsitzender), Cornelia Burmann (1. stellvertretende Vorsitzende) und Ludger Funke (2. stellvertretender Vorsitzender und künstlerischer Leiter). Dr. Günter Bönig ist promovierter Anglist und war 36 Jahre Gymnasiallehrer in Bielefeld, Rietberg und Verl.

 

 

 

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