„Mohn hat sich nicht größer gemacht, als er wirklich war“

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Heiner Wichelmann/Archiv

16.06.2021

Zum 100. Geburtstag von Reinhard Mohn erzählt der langjährige Bertelsmann-Konzernbetriebsrat Jochen Werner (82) über sein besonderes Verhältnis zum legendären Firmenchef. Mohn und Werner vertrauten einander, ihre Zusammenarbeit galt als sehr erfolgreich. Nur wenige Mitarbeiter kamen Mohn so nahe wie der gelernte Maschinenschlosser, der mit 19 Jahren zu Mohndruck kam und dort sein ganzes Berufsleben verbrachte. Ein Stadtgespräch über den Menschen hinter dem Unternehmer Reinhard Mohn.


Herr Werner, Sie hatten als Betriebsrat von Mohndruck und später auch als Bertelsmann-Konzernbetriebsrat ein vertrauensvolles Verhältnis zu Reinhard Mohn. Erinnern Sie sich noch an Ihren ersten Kontakt?

Das war bei einem Fußballturnier anlässlich Gründungsfeier von Ariola, da waren viele Prominente dabei. Reinhard Mohn spielte gleich zweimal – das erste und das letzte Mal. Kennengelernt haben wir uns aber erst, als ich zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt worden war. Mark Wössner, der damals Geschäftsführer von Mohndruck war, nahm mich mit zu Reinhard Mohn, stellte mich ihm in seinem großen Büro mit dem riesigen Schreibtisch vor und übernahm dann auch gleich die ganze Rhetorik. Beim zweiten Mal ging ich alleine in Mohns Büro, in Schlossermontur. Das mochte Reinhard Mohn, er hängte gleich sein Jacket über den Stuhl und sagte: „Oh, dann kann ich mich ja auch ausziehen!“ Er war ganz locker, freundlich und entgegenkommend, wie eigentlich fortan immer, wenn wir alleine waren. Die meisten kannten ihn so gar nicht. Er konnte ja auch anders sein, wenn einer sein Vertrauen missbraucht hatte, dann ging nichts mehr. Diese Erfahrung mussten viele großen Leute bei Bertelsmann machen. Sie mussten dann gehen.


Wie kamen Sie eigentlich in den Betriebsrat?

Das kann unverhofft und ohne Vorbereitung. Ich war schon 20 Jahre als Schlosser beschäftigt, als ich auf einer Betriebsversammlung war, wo es hoch herging. Die gewerkschaftlich Organisierten und die Nichtorganisierten bekamen sich in die Haare. Da bin ich spontan in die Bütt gegangen und habe gesagt: Seid ihr eigentlich verrückt? Die Leitung lacht sich doch kaputt, wenn wir uns hier streiten. Als ich mich wieder setzte, riefen direkt einige: Geh in den Betriebsrat! So ging‘s los.


Der große Mohn und der kleine Schlosser: das war nicht einfach, oder?

Natürlich war ich aufgeregt am Anfang und musste erst mal lernen, diesen Umgang zu pflegen und meine Anliegen so vorzutragen, dass sie auch gehört wurden. Aber ich wurde auch unterstützt, bekam zum Beispiel von Mark Wössner Tipps über Weiterbildungsprogramme, die ich dann auch genutzt habe. Ich habe aber nie erlebt, dass Reinhard Mohn meine Unerfahrenheit ausnutzte. Er war sehr fair.


Wie oft trafen Sie sich mit Reinhard Mohn? War der Kontakt intensiv?

Es gab natürlich die regulären Zusammenkünfte, aber wir sprachen auch zwischendurch viel miteinander. Wenn irgendwelche Dinge anstanden, lud er mich zum Kaffee ein. Seine Tür stand für mich immer offen, und es wurde von Mal zu Mal entspannter. Ich war stolz darauf, so einfach und unkompliziert die Anliegen meiner Kollegen an Mohn weitergeben zu können.


Man kannte Reinhard Mohn von außen als einen sehr ernsthaften, konzentrierten Menschen, den manche vielleicht auch als unnahbar empfanden. Stimmt dieses Bild?

Ich hatte mit ihm nie das Problem. Wir sind uns immer sehr nah gekommen. Er hat sich wohl zum eigenen Schutz von den meisten zurückgehalten. Er ging ja auch nirgendwo hin. Ich habe ihn als einen Menschen erlebt, der in allem, was er sagte, Tiefe und Ernsthaftigkeit zeigte und in sich ruhte. Aber natürlich konnte er auch zu Beginn eines Gespräches etwas Small-Talk halten, erkundigte sich nach den Kindern und dergleichen.


Reinhard Mohn wurde zu einem Jahrhundertunternehmer – und er wurde reich. Wie haben Sie das erlebt?

Er hatte keine Yachten, das passte nicht zu ihm. Er war im Gegenteil in meinen Augen ein sehr bescheidener, konsequenter Mann, der die Wahrheit und die Gerechtigkeit liebte, und der immer ein guter Arbeitgeber sein wollte und auch war.


War das Interesse von Mohn an seinen Mitarbeitern echt? Konnte er auch Kritik respektieren?

Es gab mal die krisenhafte Situation in den 90ern, als gespart werden musste. Da gab es das Konzept für Sonntagsarbeit mit drei Schichten, in der dritten kamen wir noch in die Überstunden rein. Mohn wollte wissen, wie die Mitarbeiter dazu standen und diskutierte mit mir auch Details, bis wir schließlich eine Lösung fanden. Die sah dann letztlich so aus: Freitagnachmittag von 16 bis 23 Uhr, samstags von 6 bis 14 Uhr und sonntags von 18 bis 6 Uhr am Montagmorgen. Damit hatten die Kolleginnen und Kollegen dann aber auch ihre Wochenarbeitszeit erfüllt. Als mich die IG Druck und Papier nach Stuttgart einlud, um das Konzept mit denen zu diskutieren, fragte Mohn mich, um die Kraft hätte, da zu bestehen. Die hatte ich – für mich war das dort wie ein Schaulaufen.


Wie haben Sie Reinhard Mohn im Aufsichtsrat erlebt?

Er war der Vorsitzende und immer der bestinformierte Mann am Tisch. Wir waren ja ein Tendenzbetrieb, brauchten eigentlich keine Arbeitnehmer-Vertreter im Aufsichtsrat, aber Mohn legte großen Wert darauf. Nach der ersten Sitzung 1979, an der ich teilnahm – es ging gerade mal um ein Budget von 10 Millionen Mark für ganz Bertelsmann – ging ich zu Mohn und fragte ihn, was ich da im Aufsichtsrat sollte, ich hätte doch keine Ahnung. Darauf sagte er: „Glauben Sie nicht, dass die anderen alles wissen, die kennen meistens auch nur ihr eigenes Fach. Herr Werner, Sie sind verantwortlich für das Soziale!“ Dann ließ er sich das Tagesordnungsraster bringen und änderte es so, dass ich bei allen vier Sitzungen im Jahr jeweils vor Beginn der eigentlichen Tagesordnung eine Viertelstunde Redezeit bekam. Wie sich herausstellte, war das eine unheimliche Macht, geradezu eine Waffe für mich! Fast jeder der anwesenden Vorstandsmitglieder rief mich dann vor einer anstehenden Sitzung an und wollte wissen, ob es denn noch irgendwo im sozialen Bereich ihrer jeweiligen Zuständigkeit ein Problem gäbe. Die wurden richtig nervös, und ich konnte vieles auf diesem Wege bereits vorab erreichen.



Das hat Reinhard Mohn genauso gewollt?

Da bin ich sicher. Seine Leitlinie für das Miteinanderumgehen war ja Geben und Nehmen, Gelten und gelten lassen, mögen und gemocht werden. Er wusste: Höchste Leistungsfähigkeit ist nur mit Menschen möglich, die sich mit dem Unternehmen identifizieren. So haben wir dann auch alle gearbeitet und waren stolz auf das Unternehmen. Und es ist sehr viel Positives und Beispielhaftes entstanden: Altersvorsorge, Gewinnbeteiligung, Kindergarten, Sportprogramme und so weiter. Es war eine gute Zeit.


Bei Bertelsmann gibt es eine Gesprächskultur im Sinne der von Reinhard Mohn propagierten Mitsprache im partnerschaftlichen Unternehmen, also Mitarbeiterbesprechungen, Januargespräche, Arbeitskreise und so weiter. War das für Mohn ein Harmonisierungs-, ein Führungs- oder ein echtes Mitbestimmungsprogramm?

Sicherlich von allem etwas, aber dahinter stand sein fester Wille, die Mitarbeiter im Betrieb an der Entwicklung des Unternehmens teilhaben zu lassen. Wie kann man die Prozesse, die Leistung noch verbessern? Darum ging es. Es wurde immer mal kritisiert, warum die Jahresgespräche stattfinden mussten und oft ja auch dann, wenn der Arbeitsanfall gerade sehr hoch war. Aber Mohn sagte mir einmal: „Wir müssen sie institutionalisieren, sonst finden sie nicht statt.“ Es war sicherlich auch ein Führungsinstrument, Mohn forderte die Mitarbeiter damit heraus, wollte deren Befindlichkeit und ihre Bewertungen wissen, auch über ihre Vorgesetzten. Das war ihm sehr wichtig. So entwickelte er ein gutes Auge für Mitarbeiter, die er zu Führungskräften machte. Er wollte vor allem keine schwarzen Schafe in der Führung haben.


Eine Kommunikationsstruktur, die den Unternehmenszielen dient: Konnten sich die die Mitarbeiter mit ihren Anliegen auch mal durchsetzen?

Ich habe die vielen Mitarbeitergespräche am Ende für gut gehalten. Sie führten oft zu Ergebnissen, die den Zielen des Unternehmens dienten. Ich möchte aber auch sagen: Man muss wissen, dass der Abhängige sich nie offen äußern wird, wenn er befürchten muss, dass das Folgen hat. Da müssen wir ehrlich sein. Immerhin offenbarte die von Reinhard Mohn gewollte Gesprächskultur bei Bertelsmann, was die Beschäftigten anspornt und was sie bedrückt. Aber er sagte mir auch mal ganz klar: „Wir sind keine therapeutische Veranstaltung. Hier muss ein Produkt erstellt werden, das verkaufbar ist.“


Sie hielten beim Festakt zum 65. Geburtstag Reinhard Mohns in der Stadthalle Gütersloh eine vielbeachtete Rede. Darin erzählten Sie von einem Geldgeschenk Reinhard Mohns an seine Pensionäre der ersten Stunde. Wie war das genau?

Ja, diese Geschichte zeigt, was Reinhard Mohn für ein Mensch war. Er zahlte still und heimlich an die Männer und Frauen der ersten Stunde, die mit ihm buchstäblich noch die Trümmer nach dem Krieg weggeräumt hatten, drei Millionen Mark aus – übrigens gegen den anfänglichen Protest einiger Top-Führungskräfte im Unternehmen. Die Pensionäre waren genau die Menschen, die neben und hinter ihm gestanden hatten, als er 1947 seine erste Rede, damals noch im Bertelsmann-Gebäude an der Eickhoffstraße, als neuer Firmenleiter an seine Mitarbeiter hielt – eine ikonische Szene. Sein Vater Heinrich Mohn hatte gerade die Firmenleitung an ihn abgetreten. In einem seiner Bücher schrieb Mohn dazu: „Wenn meine älteren Mitarbeiter versichern, dass sie für mich durchs Feuer gegangen wären, kann ich heute versichern, dass ich dies auch für sie getan hätte und manchesmal auch getan habe.“ Und genau das habe ich so erlebt. Reinhard Mohn hat sich nicht größer gemacht, als er wirklich war.


Wie würde sich Reinhard Mohn heute bei Bertelsmann fühlen?

Obwohl die politische und ökonomische Lage, die Märkte, die Produkte sich verändert haben, ist es trotzdem möglich, menschlich mit Menschen umzugehen. Nichts ist fördernder für Leistung als Menschlichkeit und den Menschen in das Unternehmenskonzept mit einzubeziehen. Da hat sich nach meiner Beobachtung heute manches geändert – und das würde Mohn heute sicherlich oft aufstoßen. Das erlaube ich mir zu sagen. Wenn ich erlebe, wie viele Ehemalige sich heute dankbar äußern für die Zeit, die sie unter Mohn verbracht haben, kann ich mir vorstellen, dass sie sich in dieser modernen Welt heute nicht mehr zurechtfinden würden. Wir kommen immer weiter weg von uns, Elektronik beherrscht die Welt, Gefühle spielen kaum noch eine Rolle. Der Mensch, der das Maß aller Dinge sein sollte, steht heute nur noch im Wege.


Da war Mohn anders?

Ja, er wollte die Partnerschaft, um zu den besten Lösungen zu kommen. Einmal lud er mich ein, ihn zu einem Vortrag in der Uni Augsburg zu begleiten, als Zuhörer. Kurz vor seinem Vortrag fragte er mich, ob ich mit aufs Podium kommen wollte. Mir rutschte das Herz in die Hose. Die Studenten richteten am Schluss ihre Fragen nur noch an mich. Ich sagte ihnen, dass bei uns wahrscheinlich mehr gestritten und diskutiert wird, als woanders, aber am Schluss seien wir uns einig und alle machten mit. Und darum ginge es.


Kritiker könnten sagen, das riecht nach Instrumentalisierung des Betriebsrats.

Das ging auch durch unseren Kopf, aber Mohn sagte: „Herr Werner, wir haben doch den richtigen Weg, diese Kritik müssen wir doch aushalten können.“ Die Ergebnisse gaben ihm Recht. Die Gewerkschaften konnten ihre Basis in unserem Unternehmen nie wirklich ausbauen, weil Mohn jeden Tarifvertrag ohne Wenn und Aber übernahm und im Zweifel nach Verhandlungen mit dem Betriebsrat noch was drauflegte. Er hatte diese Partnerschaftsideologie, das Gegeneinander von Kapital und Arbeit war ihm zuwider.


Die Partnerschaftsideologie entwickelte er zu einer Zeit, als die Gesellschaft nach links rückte: Studentenunruhen, Systemdiskussionen, Erstarken der Gewerkschaften. Woher kam diese intellektuelle Kraft von Reinhard Mohn?

Er war Offizier, die haben sich alle in der amerikanischen Gefangenschaft weitergebildet. Aber er handelte auch intuitiv. Ich fühlte mich bei ihm nie wie bei einem Professor. „Mach‘s einfach“, war sein Lieblingsspruch. Es gibt Menschen, aus denen es herauskommt. Andere wissen alles, aber die können es nicht umsetzen. Mohn stand für sich. Er war ein ganz außergewöhnlicher Unternehmer, der zu Recht von vielen Menschen verehrt wird. Ich gehöre dazu.



Zur Person

Jochen Werner (82) flüchtete mit 17 Jahren aus der DDR nach Gütersloh und kam als 19-Jähriger zu Mohndruck, wo er 20 Jahre als Maschinenschlosser arbeitete. Von 1981 bis 1990 war er Vorsitzender des gemeinsamen Betriebsrates der Firmen Mohndruck und Sonopress. Im Konzernbetriebsrat führte er ebenfalls von 1981 bis 1990 den Vorsitz und war von 1992 bis zu seinem Ausscheiden von Bertelsmann dessen stellv. Vorsitzender. Parallel dazu war er bis auf zwei Jahre Unterbrechung auch Mitglied des Aufsichtsrates der Bertelsmann AG. Dazu kamen noch zahlreiche weitere Funktionen im Konzern. Das Bertelsmann-Partnerschaftsmodell trägt im Wesentlichen auch seine Handschrift.

Unsere Website verwendet Cookies. Bleibst Du weiter auf unserer Website, scheinst Du nicht nur von der Seite begeistert zu sein, sondern stimmst auch der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen findest Du hier