Autor: gt!nfo
Fotos: Stadtarchiv
22.12.2023
In den kommenden Ausgaben des gt!nfo laden wir Sie ein, uns auf der Erkundungsreise durch die Gütersloher Zeitgeschichte zu begleiten. Bis zum Jahr 2025 stellen wir Ihnen ein Jahrzehnt der Stadtgeschichte vor: angefangen von den Trümmerjahren der Nachkriegsgesellschaft über die Jahre des „Wirtschaftswunders“ und Phasen der Globalisierung bis in die unmittelbare Gegenwart hinein. Eine kleiner Vorgeschmack auf das im Jahr 2025 zum Stadtjubiläum erscheinende Buch über die Stadtgeschichte …
Zerstörte Gebäude und Straßen, dramatische Engpässe in der Grundversorgung, lebensgefährliche Blindgänger, Flüchtlings- und Vertriebenenströme, Verlust, Traumata und allenthalben Chaos: Gütersloh gab im Frühjahr 1945 wie viele andere deutsche Städte ein trostloses Bild ab. Die Bewältigung des Alltags gestaltete sich in den ersten Nachkriegsjahren sehr schwierig. Die Versorgung mit Nahrung, Bekleidung, Unterkünften und den nötigsten Gebrauchsgütern stellte die Menschen in der Stadt jeden Tag vor beträchtliche Herausforderungen.
Fleischwarenfabrik Sewerin, April 1945, ehem. russ. Kriegsgefangen und Gütersloher plündern, US National Archives und Records Administration.
In ganz Europa waren zahllose Menschen in Folge der nationalsozialistischen Verbrechen und des Krieges entwurzelt worden. Das zeigt sich auch in Gütersloh, wo im Jahr 1946 rund 36.000 Einwohnerinnen und Einwohner lebten. 5.000 von ihnen waren Flüchtlinge und Vertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten des zusammengebrochenen Reiches. Diese Menschen kamen meist nur mit dem allernötigsten Hab und Gut und wurden bei der Ankunft im Westen selten willkommen geheißen. Gleichzeitig befanden sich zu diesem Zeitpunkt ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus Polen, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Italien und allen voran aus der Sowjetunion in der Stadt – Menschen, die verschleppt und ausgebeutet worden waren und damit massiv unter dem nationalsozialistischen Regime gelitten hatten. Hinzu kamen ca. 2.000 Evakuierte, Ausgebombte und Kriegsgeschädigte, die es zu versorgen galt. In Gütersloh befanden sich zu diesem Zeitpunkt also verschiedene Gruppen mit ganz unterschiedlichen Kriegs- und Verlusterfahrungen. Diese Gemengelage sorgte für eine verschärfte Versorgungssituation und zwang die Menschen zu Diebstählen, zum Beispiel in Obstgärten oder von haltenden Güterwagen. Neben Nahrungsmitteln waren vor allem Brennmaterialien wie Kohle begehrt.
Besonders schlecht war die Wohnsituation in der Stadt. Sie war das beherrschende Thema der ersten Ratssitzungen darstellte. Zwischen Juli 1940 und Kriegsende gab es 40 Luftangriffe auf Gütersloh. Die Bilanz: Tausende Bomben, 300 Tote, über drei Viertel der 4.000 Häuser beschädigt, über 1.000 Wohnungen zu mehr als 60 Prozent zerstört. Gütersloh wies nach Bielefeld und Paderborn den größten Verlust an Wohnraum in der Region auf. Zusätzlich belastend war die Beschlagnahmung von Wohnungen durch die britische Besatzungsmacht, die im Sommer die US-Amerikaner abgelöst hatte. Waren zunächst nur die Villen der Fabrikanten betroffen, wurden bald auch öffentliche Gebäude wie das Krankenhaus oder das Parkbad beschlagnahmt, Mitte 1945 dann auch rund 130 Privathäuser mit 200 Wohnungen.Zehn Jahre später wurden insgesamt über 640 besetzte Häuser und Wohnungen gezählt, die erst 1956/1957 wieder an die ursprünglichen Besitzerinnen und Besitzer übergeben wurden. Dieser fehlende Wohnraum sorgte für räumliche Enge. So drängten sich viele Menschen in Wohn- und Schlafräumen, hatte sich der durchschnittliche Wohnraum pro Kopf von 7 auf 5,9 Quadratmeter verringert. Für die Geflüchteten und Vertriebenen wurde ein provisorisches Lager an der Herzebrocker Straße eingerichtet. Dort befand sich auch das sogenannte „Ausländer-Lager“, wo „Displaced Persons“ (ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und andere) sowie untergebracht wurden.
Freilichbühne im Mohnspark
Zur Linderung der Not wurde in der Stadt der Hilfsausschuss für Kriegsgeschädigte gegründet. Dieser sammelte allein bis Jahresende 1945 2.000 Möbel- und 5.300 Bekleidungsstücke, 4.600 Teile Haushalts- und Bettwäsche sowie 9.200 Stück Küchengeräte, 10.900 Woll- und Schlafdecken und über 3.500 Paar Schuhe. Angesichts der entbehrungsreichen Zeit überrascht wenig, dass der Leiter des Gütersloher Arbeitsamtes im November 1946 die Bevölkerung als „zerbrochen, müde, apathisch und gleichgültig“ beschrieb: „Eine lähmende Lethargie breitet sich aus. Hunger und Hoffnungslosigkeit sind die Zeichen dieser Zeit.“ Und Hunger war in der Tat allgegenwärtig: Gewichtsmessungen aus diesen Jahren ergaben eine eklatante Zahl an Untergewichtigen unter Grundschulkindern; nicht einmal jedes siebte Kind wies das empfohlene Mindestgewicht auf. Dies wiederum machte die Kinder anfällig für Krankheiten aller Art. Eine Folge war die Einführung der Schulspeisung für Tausende Gütersloher Schülerinnen und Schüler zwischen sechs und 14 Jahren.
Insbesondere unter den Vertriebenen und solchen Familien, die keinen eigenen Garten besaßen, war die Notwendigkeit hierfür gegeben. Tausende Gütersloher Kinder erhielten Hunderttausende Portionen an Erbsen-, Bohnen- und Süßer Suppe, Haferflocken- oder Süßspeisen, wie sich auch viele Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beim Erzählcafé zur Nachkriegszeit lebhaft erinnerten. Noch im Oktober 1948 wurden knapp 4.000 Tafeln Schokolade an den Schulen verteilt. Bis 1947 wurden in der Stadt Wärmehallen und Volksküchen errichtet. Diese halfen Menschen, die kein Heizmaterial zum Kochen und Heizen hatten, konnten sie doch dort eine warme Mahlzeit – in der Regel ein Eintopfgericht – zu sich nehmen. Und doch blieben fehlende warme Winterkleidung, die mangelhafte Beheizung von Räumen und Engpässe an Heizmaterialien drängende Probleme. Als wäre dies nicht genug gewesen, suchte die Stadt in der Nacht zum 8. Februar 1946 eine Naturkatastrophe heim: Die Dalke überschwemmte große Teile der Stadt.
Trotz oder gerade wegen der Alltagsnöte spielte der Bereich der Kultur eine wichtige Rolle: In der von Chaos, Unsicherheit und Verlust geprägten Zeit wurde er zum heilsamen Rückzugsort. Bereits kurz nach Kriegsende wurde mit dem Bau einer „Kulturscheune“, die spätere Paul-Thöne-Halle, und der Freilichtbühne in Mohns Park begonnen. 20.000 Quadratmeter zerstörte Straßen und 148.000 Kubikmeter Trümmermassen – diese unvorstellbare Menge an Material wurde in Bollerwagen, Pferdegespannen und auf anderen Wegen in Mohns Park geschleppt. Aus dem Schutt sollte „wieder etwas Lebendiges“ entstehen: die heutige Freilichtbühne, die wie die Paul-Thöne-Halle 1949 ihrer Bestimmung übergeben werden konnte. Wo sich wenige Jahre zuvor noch nationalsozialistische Organisationen versammelt hatten, suchten die Gütersloherinnen und Gütersloher nun mehr Zerstreuung und Ablenkung vom tristen Nachkriegsalltag. Beide Bauten wurden zum Sinnbild des Wiederaufbauwillens und des Aufbruchs in Gütersloh – wohl auch ein Grund, warum der Abriss des ehemaligen Theaters 2007 für emotionale Debatten in der Stadt sorgte.
Paul Thöne
Die städtische Nachkriegserzählung betonte gern und häufig den christlichen Glauben und den Wiederaufbauwillen der Bevölkerung und verstellte damit den Blick auf die Vergangenheit und die eigene Beteiligung am NS-Regime. Mit der sogenannten Entnazifizierung sollten auch in Gütersloh belastete Personen aus ihren Ämtern entfernt und strafrechtlich verfolgt werden. Von der britischen Militärregierung wurden zunächst nur die Personen in hohe Ämter berufen, die als unbelastet galten, wie der erste Bürgermeister Güterslohs nach 1945, Paul Thöne. Der Entnazifizierungs-Ausschuss bestand aus einer Handvoll Bürgerinnen und Bürgern, die als Gegnerinnen und Gegner des Nationalsozialismus galten. Er hatte die komplizierte Aufgabe, Lebensläufe nach ihrer Verwicklung mit der nationalsozialistischen Diktatur zu durchleuchten und diese nach ihrer vermeintlichen Belastung in Kategorien einzuteilen. Von den damals 350 Personen der städtischen Belegschaft gehörten 77 der NSDAP an. Von diesen schieden letztendlich 21 Personen wegen ihrer politischen Vergangenheit aus. Im nächsten Teil unserer Serie erfahren Sie mehr zur Entnazifizierung in Gütersloh als ersten Schritt hin zur Demokratisierung.
Kontinuitäten auf der einen und abrupte Umbrüche auf der anderen Seite: Die Gütersloher Nachkriegsgeschichte war geprägt von Verlust und Neubeginn, aber auch von fließenden Übergängen. In den ersten Jahren nach dem Krieg hatte die Linderung akuter Nöte und Bedürfnisse Priorität. Die zukunftsgerichtete Bewältigung über den Wiederaufbau deutscher Städte ließ offenbar kaum die Zeit, die nun erlebte Not als Konsequenz deutscher Aggressionen und Verbrechen zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit wurde zunächst verdrängt und sollte erst Jahre später einsetzen.
Die Texte schreiben Christoph Lorke, Joanna Gelhart rund Tim Zumloh.