Gegen das Schweigen

Sybille Hilgert

Autor: Sybille Hilgert

Fotos: Joel Horsley

08.10.2023

Kultur


Luise Pusch, Mitbegründerin der Feministischen Linguistik, wurde in Gütersloh geboren. Über ihr Aufwachsen als lesbische junge Frau in den homophonen Nachkriegsjahren hat sie das Buch „Gegen das Schweigen” geschrieben. Jetzt kommt sie zu einer Lesung nach Gütersloh.


Interview: Sybille Hilgert


Wo haben Sie Ihre Kindheit in Gütersloh verbracht?


Luise Pusch: Mein Geburts- und Elternhaus steht im Zum Hagen Hof. Nr. 11. Als ich dort wohnte, waren die Häuser relativ neu, ein schlichtes Ensemble. Heute gilt das als historisch und steht sogar unter Denkmalschutz. Meine Geschwister und ich haben da sehr gerne gespielt und sind auch immer die Haegestraße rauf- und runtergelaufen. Auch am Schlangenbach sind wir viel gewesen.


Dann war da noch das Haus Buchwald mit dem gleichnamigen Wald. Das Haus war verfallen und etwas unheimlich, hatte aber noch etwas von seiner alten Pracht bewahrt. Daneben war eine Baracke. Im linken Teil hielt die evangelische Kirche ihre Gottesdienste ab - und im rechten Teil war der evangelische Kindergarten untergebracht. In der Nachkriegszeit gab es auch noch viele Trümmer. Da haben wir nach Abfällen, Draht und Kupfer gesucht. Die haben wir dann zum Lumpenhändler gebracht, um uns ein wenig Geld zu verdienen. Beim Lumpenhändler am Nordring roch es immer ganz schrecklich nach alten Knochen.


Wie war die Schulzeit?


Luise Pusch: Ich habe die Blücherschule besucht. Dort sind wir zu Fuß hingegangen. Nach Schulschluss waren wir häufig in der Barthstraße, um beim Lebensmittelgeschäft Siewert Süßigkeiten zu kaufen oder beim Konsum an der nächsten Ecke ein Teilchen.


Und dann kam ich ins Gymnasium. Unsere Lehrerin in der Blücherschule riet meiner Mutter, mich aufs Gymnasium zu schicken. Aber für sie war es sowieso selbstverständlich, dass ihre drei Kinder aufs Gymnasium kamen. Und das obwohl sie alleinerziehend (sie hatte sich scheiden lassen) und arm war. Auf dem Mädchengymnasium hatten wir wirklich gute Lehrkräfte. Das lag wohl daran, dass die Tochter des Direktors, Dr. Steuernagel, bei mir in der Klasse war, und er verteilte die Lehrerinnen und Lehrer entsprechend. Meine Lieblingsfächer waren Deutsch und vor allem Englisch. Das habe ich dann ja auch in Hamburg studiert.


Gütersloh muss damals sehr provinziell gewesen sein.


Luise Pusch:. Das war eine winzige Kleinstadt mit 35.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Ich wollte immer schon in die Großstadt. Heute wohne ich in Hannover und Boston. Hannover ist ähnlich groß wie Boston, hat aber ein viel besseres Verkehrssystem. Die Stadt hat keinen besonders interessanten Ruf, aber das finde ich gerade anziehend. Ein bisschen wie ein unbeschriebenes Blatt, das gibt mehr Freiheit.


Wie lange haben Sie in Gütersloh gewohnt?


Luise Pusch: 19 Jahre von 1944 bis 1963. Es war das Zeitalter der Ultra-Homophobie, nicht nur in Gütersloh. Aber im christlich getönten Gütersloh und meiner christlich getönten Familie hat sich das nochmal verschärft. Ich entdeckte mit 10 Jahren, dass ich mich in eine Klassenkameradin verliebt hatte, und ich wusste irgendwie, dass das nicht richtig war und dass ich das niemanden mitteilen durfte. Um diesen Druck geht es auch im Buch. Ich musste mich in aller Öffentlichkeit mit einer Maske bewegen, wie ein Spion im Feindesland, der nicht entdeckt werden darf.


Sie sagen ja auch, dass Ihre Kindheit beschissen war.


Luise Pusch: Ja, wegen all dem, was nicht gesagt werden durfte, was mich aber intensiv beschäftigte. Ich habe das Buch auch geschrieben, weil viele Schwule in letzter Zeit über ihre Kindheit und Jugend Bücher veröffentlicht haben. Man weiß darüber Bescheid, was an den Schulen verbrochen wurde. Die Lesben haben weiter geschwiegen.



Können Sie das erklären?


Luise Pusch: Das hat natürlich feministisch bekannte Gründe: Frauen haben zu schweigen. Als Frauen im 17., 18., 19. Jahrhundert begannen, Autobiografien zu schreiben, haben sie erst einmal seitenlang begründet, warum ihr Leben, obwohl nur das einer Frau, trotzdem interessant genug ist, um aufgeschrieben zu werden. Frauen hatten sich nicht wichtig zu nehmen, sondern dem Mann und der Familie zu dienen. Zum Lebensprogramm von Frauen gehört es auch nicht, irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Sie haben im Hier und Jetzt genug zu tun. Männer dagegen arbeiten ständig an ihrem Nachruhm.


Und bei Lesben kommt noch hinzu, dass sie ihr Leben lang stark gedemütigt wurden. Da braucht es schon besonders viel Motivation, um eine Autobiografie zu schreiben. Aber ich fand es feministisch geboten, dass eine Lesbe ihr Leben aufschreibt, und ich habe ja praktisch keinen Ruf mehr zu verlieren. Deswegen habe ich das gemacht.


Werden Ihnen andere nachfolgen?


Luise Pusch: Das ist das Ziel. Ich hoffe, dass sich auch andere an ihre Kindheit erinnern, sich wiedererkennen, inspiriert fühlen und über ihr Leben schreiben.



Wann haben Sie sich geoutet?


Luise Pusch: Meiner Mutter gegenüber habe ich mich mit 22 Jahren geoutet. Es ging mir sehr schlecht, und wahrscheinlich vermutete sie, dass ich schwanger bin. Als sie hörte, dass ich mich in eine Kommilitonin verliebt hatte, in die sich dann mein Bruder verliebte, war ihr das zuviel. Sie hat immer versucht, mich umzustimmen. Vielleicht wollte sie mich aber auch vor dem Schicksal bewahren, ausgegrenzt zu sein. Meine Geschwister dagegen haben das einfach akzeptiert und mich unterstützt. Auch mein Stiefvater, 13 Jahre jünger als meine Mutter, hat hinter mir gestanden. 


In den 70er-Jahren kam dann die Frauenbewegung, und wir Verpönten wurden sozusagen zur Avantgarde. Ich habe dann vielen gegenüber mein Coming out gehabt, allerdings nicht öffentlich.


War es in Ihrer Klasse bekannt, dass Sie lesbisch sind?


Luise Pusch: Nein. Als wir uns zum 50-jährigen Jubiläum des Abiturs trafen, wusste es die eine oder andere. Aber wir haben nicht darüber geredet. Es ist schon noch ein Tabuthema und vielleicht wollten mir meine ehemaligen Mitschülerinnen auch nicht zu nahe treten. Sie wussten einfach auch nicht, wie sie damit umgehen sollen.


Sind Ihre Geschwister in Gütersloh geblieben?


Luise Pusch: Mein älterer Bruder lebt in Frankreich und Schweden, ich in Boston und Hannover. Wir sind also so weit wie möglich weggegangen. Meine jüngeren Geschwister sind wieder nach Gütersloh zurückgekehrt.


Kommen Sie denn zu Besuch?


Luise Pusch: Ganz regelmäßig habe ich meine Eltern besucht. Die wohnten in der Ahornallee. Da sind auch meine jüngeren Geschwister wieder hingezogen. Zu den Festen kamen wir immer nach Hause. Übrigens kam auch mein Bruder mit seiner Frau und seiner französischen Schwiegermutter nach Gütersloh - insbesondere zu Weihnachten. Wir haben Weihnachtslieder gesungen, meine Mutter hat Klavier gespielt und es gab einen schönen Weihnachtsbaum. Und für mich war das immer die Gelegenheit, meine Geschwister und meine Mutter wiederzusehen. Und auch zum 50-jährigen Abitur-Jubiläum war ich hier.


Hatten Sie bei den Besuchen denn auch Gelegenheit sich in Gütersloh umzusehen?


Luise Pusch: Eher weniger. Ich bin ab und zu in der Münsterstraße einkaufen gewesen und mir ist aufgefallen, dass alles urbaner geworden war. Das fand ich erfreulich. Ich lebe aber viel lieber in einer Großstadt, und das hat sicher damit zu tun, dass ich lesbisch bin. In der Großstadt gibt es nicht soviel soziale Kontrolle. Das empfand ich schon beim ersten Mal, als ich zum Studium nach Hamburg, kam als wohltuend.



Und jetzt kommen Sie zu einer Lesung wieder nach Gütersloh.


Ja, und ich freue mich darauf.



Die Lesung von Luise Pusch findet am 10. Oktober um 19.30 Uhr in der Buchhandlung Markus statt.


Tickets

https://buchhandlung-markus.buchhandlung.de/shop/magazine/133857/markus_praesentiert_veranstaltungen.html






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