Autor: Thorsten Wagner-Conert
Fotos: Thorsten Wagner-Conert
17.06.2021
Heimat ist ein Gefühl. Auf einen Nenner kommen Gütersloher in Heimatfragen ganz schnell am Berliner Platz: Dort steht seit 1861 die Martin-Luther-Kirche, die zunächst „Neue Kirche“, später „Auferstehungskirche“ hieß. 1933 wurde sie dem Reformator gewidmet.
Erst 1866 bekam die Kirche mit ihren drei Glocken ein Stück Gütersloher Seele. Die beiden Weltkriege aber setzten dem ersten Glockenensemble zu: Im Ersten Weltkrieg wurde die kleinste Glocke eingeschmolzen, im Zweiten Weltkrieg wurde beschlossen, alle Glocken für die Waffenproduktion zu beschlagnahmen. Eine eigene Geschichte in düsterer Zeit mit Nebenschauplätzen. Seit 1947 jedenfalls läuten zwei neue Glocken, gestiftet durch den damaligen Eigentümer der Firma Draht Wolf, gemeinsam mit der kleinen „Benedictina“ genannten und über den Krieg geretteten Glocke so, wie wir das heute kennen. Das Geläut provoziert mit seinem Klang Heimatgefühle.
Die hat auch Pfarrerin Wiebke Heine, die sich als junge Frau nach der Gütersloher Schule schwor: „Dieses Kaff sieht mich nie wieder.“ Es war wohl jugendlicher Trotz, heute nämlich ist die Frau Gütersloherin aus Leidenschaft. Und sie hat den Schlüssel, mit dessen Hilfe der Turm der Martin-Luther-Kirche zu erobern ist.
Ab nach oben
Zielstrebig geht es im Turminneren nach oben, erst über Steintreppen, dann über Holzstufen, dann über Tritte, die eher Leiter als Treppe sind. Die Pfarrerin kennt sie alle: die kleinen Stolperfallen, die Stellen zum Anecken, die richtigen Zeitfenster. Ohne Gehörschutz nämlich sollte man nicht neben den Glocken stehen, wenn die viertelstündlich Laut geben. In einem günstigen Augenblick geht es an ihnen vorbei weiter nach oben: Dort angekommen, lässt sich die beste Draufsicht auf die Stadt und ihr Treiben genießen.
Die hat auch Blechbläser Martin Stork gehabt, als er tröstend für durch Corona ausgefallene Gottesdienste sonntags abends um 18 Uhr ein paar Stücke auf der Trompete spielte – hoch oben vom Turm. Eine kleine, klangvolle Geste, die das Zeug zu einer neuen Tradition gehabt hätte. Aber seit es nun wieder Präsenzgottesdienste gibt, hat Posaunenchorleiter Stork wieder festen Boden unter den Füßen. Seine zwischenzeitlichen Turm-Auftritte bleiben starke Erinnerung.
Eine Tradition aber ist nicht kleinzukriegen: Das Gütersloher Nachtsanggeläut ist das älteste Kulturgut in der ansonsten eher traditionsarmen Stadt. Die ältesten Erwähnungen des Geläuts stammen von 1790. Das Geläut – vom Reformationstag am 31. Oktober bis Mariä Lichtmeß am 2. Februar samstags, vor Feiertagen und zum Jahreswechsel – ist auch heute noch echte und anstrengende Handarbeit. 45 Minuten dauert die Dramaturgie des Klangspiels. Und es ist ein Auslöser von echten Heimatgefühlen für die Gütersloher, weil es einmalig ist in der Welt – und weil es die Seele in der dunklen, kühlen Jahreszeit streichelt.