Autor: gt!nfo
01.11.2023
Wo sind die Toten?
.… im Grab? Im Himmel? In der Hölle?
Text: Rolf Wischnath
Kein Friedhofsgang im Totenmonat November erspart uns die Frage. Und erst recht wird sie nun auch gestellt im Blick auf die widerwärtigen Angriffe von Schergen der Hamas auf Israel. Mehr als Tausende Tote seien es. Und im Russland-Ukraine-Krieg wären es auf russischer Seite etwa 300.000 Toten. So schreibt es die „New York Times“ unter Berufung auf US-Regierungsbeamte.
Wo sind sie jetzt? Gibt es eine Antwort? Sind all diese Toten vernichtet? Auf dem Schlachtfeld liegen geblieben? Im Grab beerdigt? Oder leben sie in einer „unsterblichen Seele“? Sind sie im „Himmel“ oder in der „Hölle“? Wie soll ich mir das vorstellen? Einen Menschen, der sich im Tod halbiert in einen sterblichen Leib und eine unsterbliche Seele?
Wir merken sogleich, dass wir hier an die Grenze des Aussagbaren kommen. In Bildern redet die Bibel vom „Zwischenzustand“ zwischen Tod und Auferstehung: vom „Paradies“ oder von „Abrahams Schoß“ oder von der Gottesnähe im „Himmel“ oder von einer Gottesferne.in der „Hölle“.
Anders als in Bildern geht es nicht. Aber auch „Sprachbilder“ können und müssen genau sein. Sie müssen eine „Wiederholgenauigkeit“ haben. Das heißt: Sie sind nicht beliebig.
Wo sind die Toten? Unsterblich, so sagt es die Bibel, ist Gott allein, denn er allein ist gut. Darum ist die Lehre von der unsterblichen Seele, die das Gute im Menschen „verkörpert“, so problematisch. Der unsterbliche Gott aber gedenkt in seiner Güte der sterblichen Menschen. Und er tut das in seiner im gekreuzigten Jesus von Nazareth offenbaren Liebe und Barmherzigkeit, die keinen verloren gibt. Und weil ER – der EWIGE, wie Israel ihn nennt – in seiner Menschenliebe sich dem geschaffenen Menschen wieder und wieder zuwendet, geht keiner von uns Erdenbewohnern verloren. In unserem Tod verlöschen wir nicht wie eine Kerze. Sondern ein Gestorbener bleibt in der Barmherzigkeit Gottes: im Gegenüber zu Gott – in der jenseitigen Welt.
Ich sage es gleich: An eine Hölle glaube ich nicht. Soll ich mir vorstellen, dass ich selber im Himmel weile, während auch nur eines meiner Kinder oder meiner Freund*innen im Feuer schmort? In der Liebe Gottes, die es ernst mit uns meint, gibt es kein „Hinaus – in die Hölle.“
Was ist das „Jenseits“ in das die Gestorbenen in ihrem Tod einziehen? Hier ist eine Antwort in der Bildersprache besonders dringlich. Denn der Jenseitsort befindet sich außerhalb der Welt, die wir mit unseren Augen sehen können. Es ist ein übernatürlicher Ort. Wir können ihn nicht substantiieren – das heißt mit irdischer, sichtbarer Substanz versehen. Gleichwohl gibt es in den Religionen milliardenfache Erfahrungen aus jener anderen Welt. In den meisten Religionen gibt es Überschreitungen des Diesseits in die „Welt Gottes“. Sie werden so direkt für uns zu Wahrnehmungen. Und diese sind wirklicher als die irdischen Tatsachen, die unser Leben ansonsten bestimmen. Das Christentum nennt diese Wahrnehmungen die Kraft des Heiligen Geistes.
Aber was nun geschieht im Tod? Dahin ist unser irdisches Leben. Aber die Beziehung Gottes zu uns, sein Erbarmen und seine Liebe zu uns, unser „in Christus“ gerettetes Leben – das ist gewiss nicht dahin, weil eben dieser Gott nicht dahin ist. Ein Verstorbener kann deshalb nicht als völlig leibfreier Geist, als völlig ungeschichtliche Materialität gedacht werden, wenn ihm auch nicht die Leiblichkeit des kommende Daseins und dessen Zeitlichkeit zugeschrieben werden können. Ich glaube, dass wir uns einmal wiedersehen: mit Stimme und Gehör, mit Antlitz und Gestalt. Noch ist die verheißene Leiblichkeit der großen Verwandlung – der Auferstehung von den Toten – nicht erreicht.
„Wo sind die Toten?“, fragen wir. Sie sind daheim bei Gott. „Können wir mit ihnen verbunden bleiben?“ Ihr könnt mit Gott verbunden bleiben, bei dem sie sind. „Können sie uns sehen?“ Das glaube ich nicht. Aber ich glaube von den Toten: „Ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott“, so sagt es der Apostel Paulus einmal über Lebende und Tote. Weil unser noch gelebtes Leben und der Toten gestorbenes Leben schon jetzt bewahrt sind „mit Christus in Gott“. Darum bleiben Lebende und Tote in ihm lebendig, in jener anderen vorläufigen Gestalt, in der der Auferstandene seinen Jüngern erschienen ist.
Gewiss ist darum: Die wir »die Toten« nennen, sind nicht verloren. Sie leben in der anderen Welt, zu der auch wir im Tod hineingenommen werden.
„Herr Professor, Herr Professor!“ wurde der Jahrhunderttheologe Karl Barth (Basel) einmal von einer frommen Frau angegangen: „Werde ich denn auch im Himmel meine Liebsten wiedersehen?“ Barth: „Ja! - Aber die Anderen auch!“
Wir treten aus dem Schatten bald in ein helles Licht. Wir treten durch den Vorhang vor Gottes Angesicht. Wir legen ab die Bürde, das müde Erdenkleid; sind fertig mit den Sorgen und mit dem letzten Leid, Wir treten aus dem Dunkel nun in ein helles Licht. Warum wir's Sterben nennen? Ich weiß es nicht!
Dietrich Bonhoeffer