Die Spitze(n) der Bewegung

Autor: Thorsten Wagner-Conert

Fotos: Adobe Stock

16.06.2024

Ansichtssachen


 Text: Thorsten Wagner-Conert

 

Psychologen haben Festjahre in Zeiten, in denen multiple Krisen dafür gesorgt haben, dass sich Menschen in ihrem Verhalten verändern. Individualismus, Egoismus, Narzissmus – alles muss. Die Gesellschaft fährt immer stärker ihre Ellbogen aus, ohne Rücksicht auf Verluste. „Erstmal komme ich – und dann lange nichts“, das scheint der neue Anspruch mancher Zeitgenossen zu sein. Und was sich da im Alltag tut, macht natürlich auch vor Straßen nicht halt. Auch vor denen in Gütersloh nicht, findet Thorsten Wagner-Conert in seiner Ansichtssache.

 

Um es gleich vorwegzunehmen: Die diversen Krisen mögen manche Verkehrsteilnehmer noch stärker zu Vorstadt-Rambos gemacht haben. Das Phänomen „Platz da, jetzt komm‘ ich“ gab’s aber auch schon davor. Allein die Menge selbstgefälliger Verkehrsteilnehmer mit eigenen Regeln hat zugenommen. Und die gibt es in jeder Darreichungsform: Autofahrer, Fahrradfahrer, Fußgänger, Scooterfahrer und andere vermischen sich zu einer Ansammlung von Einzelkämpfern, denen das Miteinander so egal ist, wie mir in diesem Text das Gendern. Auf der Straße geht’s nämlich um uns alle. Und einigen geht’s um alles, also: um sich.

 

Die Herrschaften des ADFC haben ihre Daseinsberechtigung – natürlich. Weil wegen Klima, Lebensqualität, Verkehrsberuhigung, Entspannung und so weiter … Doch manche Mitglieder der Verkehrsgattung „Fahrrad fahren“ geben sich extrem unentspannt. Sie machen sich breiter als sie müssten, sind schneller als die Polizei erlaubt, lassen sich durch Fußgängerzonen nicht aufhalten – und machen auch schon mal schnell und (schimpf-)wortreich Handyfotos von vermeintlichen, Auto fahrenden Delinquenten. Wollen doch mal sehen … Einige schaffen es auch, dem Zebrastreifen – trefflich zu beobachten bei Potthoff in der Münsterstraße – den Sinn des Fußgängerüberweges zu nehmen, indem sie in die Pedalen treten, komme, was da wolle. Frech kommt weiter.

 

Ein anderes, scheinbar nicht mehr einzufangendes Phänomen, dem die Stadt Gütersloh mit einem lauwarmen Verkehrsversuch zu begegnen versuchte: War „Hallo, Taxi“ früher der joviale Ruf nach einem lizensierten Beförderungsmittel in Beige, in dem man beispielsweise den Weg vom Bahnhof zum Geschäftstermin komfortabel zurücklegen konnte, bringen heute immer mehr Junioren ihre Elternteile mit dem Ruf nach Beförderung auf Strecke, um komfortabel, stressfrei und ungetrübt von Witterungseinflüssen die Bildungseinrichtung zu erreichen. Und die besagten Elternteile erfüllen diese Wünsche, als gäbe es kein morgen mehr: In der Moltkestraße und der Schulstraße zum Beispiel geben sie kleinen Innenstadtstraßen richtiges Großstadtflair. Genervt, drängelnd, hupend, mit abenteuerlichen Wendemanövern, im Stau sehen sie zu, dass Fenja, Lykka, Lennart, Luke und Konsorten aber sowas von punktgenau vorm Schulportal abgeworfen werden. Die ganz Verwegenen verlassen den Stau dann, indem sie sich – unbeeindruckt von geltenden Verkehrsregeln – durch die Fußgängerzone fahrend Luft verschaffen.

 

Apropos Fußgänger: Die Spezies derer, die einen Fuß vor den anderen setzt und gleichzeitig elektronisch mit der Weltöffentlichkeit verbunden ist, wächst rasant und setzt auf Risiko: Der Aufprall auf andere Spazierende ist nicht immer gemütlich, das liebgewonnene iPhone geht im schlimmeren Fall in den freien Fall über und erleidet im noch schlimmeren Fall einen iSprung. Wirklich dumm gelaufen…

 

Und sonst so? Der Familien-SUV mit der Grundfläche einer Studentenbude bekommt ganz selbstverständlich zwei Plätze im „Karstadt“-Parkhaus. Der Schleicher, der den Anfang der Straße „Unter den Ulmen“ mit Tempo 30 befährt, weil dort Tempo 30 ist, bekommt es gern mit dem Hintermann zu tun, der sich in der besonders tollkühnen Variante zum Vordermann macht und dabei tief in die Schimpfwortkiste greift.

 

Und, auch gern genommen: Die Verjüngung der beiden doppelspurigen Enden der B61 an beiden Ortsausgängen auf eine Spur ist Hell’s Drivers Master Class: „Da geht noch was, den schaffe ich noch, ich bin gleich die Spitze der Bewegung“, scheinen manche zu denken, die den Hockenheimring für zu gemütlich halten.

 

Was wollen uns diese Alltagsbeobachtungen sagen? Vielleicht, dass wir die große, weite Welt nicht besser machen können, uns ihr, die ganz schön aus den Fugen geraten ist, stellen müssen. Aber wie wäre es mit der eigenen kleinen Welt? Der Welt, in der wir um den Kirchturm fahren, strampeln, laufen … Die Straße ist ein gutes Abbild dessen, wie wir in den angespannten Zeiten miteinander umgehen. Vielleicht fangen wir einfach im Kleinen an, den Nächsten wieder etwas mehr zu lieben, als ihn an die Seite zu schieben. Achtsamkeit, vorausschauen, Rücksicht nehmen, das Miteinander gut auf die Reihe kriegen – lauter Begrifflichkeiten, die oft sinnbildlich unter die Räder gekommen sind. Entschleunigt euch, bremst euch, entspannt euch, das Leben ist echt hart genug. Ach, und was wäre so falsch an einem Kompromiss? Wenn die Eltern ihre Kids nicht an der Schule, sondern auf dem Marktplatz aus der Limousine würfen? Ein bisschen Sauerstoff tut manch überhitzter Eltern- oder Kindesrübe ganz gut.

 

Und noch etwas: Der Text hier ist nicht vom Oberlehrer geschrieben. Ich kann auch Vollbremsung, wenn ich bis dahin nicht konzentriert war. Ich arbeite auch einen nicht vorführbaren Schimpfwortkatalog im Auto ab, wenn es mal hart auf hart kommt. Und ich google gern mal die Wissenslücke quasi im Vorbeigehen.  

 

Einfach mal einen Gang runter, damit sich der Psychologe nicht auch für uns interessiert: „Jetzt kommt lange nichts – ich fahr‘ dann mal.“

 

Gelassenheit im Miteinander kann auch therapeutisch wirken.

 

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