„Wer sich abnabelt, tut sich keinen Gefallen“

Autor: gt!nfo

Fotos: Vesperkirche

14.01.2025

Experte: Kai Unzicker, Projektleiter bei der Bertelsmann Stiftung


Kai Unzicker, Experte der Bertelsmann Stiftung für gesellschaftlichen Zusammenhalt, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit sozialen Entwicklungen. Im Interview äußert er die Sorge, dass dieser Zusammenhalt bröckelt. Projekte wie die Vesperkirche könnten helfen.

 

Wie steht es um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt? Kai Unzicker befasst sich seit mehr als 20 Jahren mit dieser Frage. Er arbeitet bei der Bertelsmann Stiftung und hat eine Reihe von Studien dazu veröffentlicht. In seinem Buch „Anders wird gut“, gemeinsam verfasst mit Verena Carl, beschreibt er Beispiele, die Hoffnung machen. Er ist in große Städte und kleine Dörfer gereist, um Projekten auf den Grund zu gehen, die das Miteinander im Gemeinwesen fördern. Kernfrage: Wie machen wir soziale Netze stabiler?

 

Herr Unzicker, stimmt die Beobachtung, dass unsere Gesellschaft auseinander driftet?


Unzicker: Leider ja. Sozialer Zusammenhalt wurde schon immer beschworen, es ist nichts Neues, dass wir ihn für gefährdet halten. Aber inzwischen, so seit vier Jahren stellen wir fest, dass da tatsächlich etwas ins Rutschen geraten ist.


Woran liegt das?


Unzicker: Man könnte es sich einfach machen und alles auf Corona schieben. Aber das wäre nicht die einzige Erklärung. Im Augenblick beobachten wir Verlust- und Zukunftsängste. Kriege, Krisen, Klima und insgesamt: Veränderung. Die Leute sind in Sorge. Sie fragen sich, was kommt auf uns zu, wie kommen wir durch? Einige reagieren mit Rückzug ins Private, andere mit Wut.


War das nicht schon immer der Fall? Solche Sorgen sind nicht neu.


Unzicker: Natürlich nicht. Es geht auch gar nicht um einen plötzlichen Umbruch, sondern um langfristige Entwicklungen, die aktuell deutlich hervor treten. Wir beobachten, dass der selbstgewählte Rückzug anfängt, zur Normalität zu werden, zur Norm. Die Abende nur noch zuhause mit Netflix statt draußen mit Mitmenschen zu verbringen, finden immer mehr Menschen plausibel, weil: gesellschaftskonform. Man guckt sich um und stellt fest: Die anderen machen es ja genauso! Ist nicht schlimm, wenn ich auch auf dem Sofa bleibe! Vor einer solchen Haltung kann ich nur warnen. Sie ist auf Dauer ungesund, sowohl individuell als auch gesamtgesellschaftlich.


Wohin führt das?


Unzicker: Wer sich abnabelt, tut sich und seiner Umgebung keinen Gefallen. Jeder Soziologe, jeder Psychiater wird das bestätigen können. Es gibt zig Untersuchungen, die alle zum gleichen Resultat führen. Wer sich aufmacht, Kontakte unterhält, dem geht es besser, angefangen bei einem geringeren Herzinfarktrisiko bis hin zu höherer Lebenszufriedenheit. Das funktioniert bei Introvertierten übrigens genauso wie bei Extrovertierten.


Hat die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns in Gesellschaft begeben, abgenommen?


Unzicker: Wir sollten nicht allzu nostalgisch werden. Auch früher war alles keineswegs besser – ganz im Gegenteil. Aber ein paar Umstände waren günstiger: Familie, Verein, auch die Kirche haben das soziale Leben strukturiert und Halt gegeben. All das hat sich aber stark gewandelt. Statt in den Fußballverein gehen wir nun ins Fitnessstudio, und wie es in den Kirchen aussieht, muss ich keinem erzählen. Das Gefühl von Zugehörigkeit droht verloren zu gehen.


In ihrem Buch „Anders wird gut“ berichten Sie von Orten, die Identifikation stiften, die Zusammenhalt fördern.


Unzicker: Solche Orte sind wichtig. Wo es sie nicht gibt, müssen wir sie schaffen. Seien es Bürgerräte, ein neues Dorfcafé oder ein Stadtfest.


Ist die Vesperkirche in Ihren Augen auch so ein Ort?


Unzicker: Die gehört definitiv auch dazu.


Was ist das Bemerkenswerte an diesem Format?


Unzicker: Dass es niedrigschwellig ist. Mitten in der Stadt, öffentlich zugänglich und vor allem: kostenfrei. Dieser Aspekt ist ganz entscheidend. Für fast alles, eine Kirmes, ein Schützenfest, brauche ich Geld. Das ist eine Riesenhürde und ein Hindernis für viele Menschen, sich in Gemeinschaft zu geben. Das Besondere an der Vesperkirche ist, dass sie den Gästen nichts kostet und dennoch keine Nischenveranstaltung für Arme ist. Wenn ich das richtig erkenne, geht da tatsächlich jeder hin, eine bunte Mischung unserer Gesellschaft. Das ist von hoher Integrationskraft.


Finden Sie es problematisch, dass sie in einer Kirche stattfindet?


Unzicker: Keineswegs. Mein Eindruck ist, dass es sich nicht um eine Veranstaltung handelt, die besonders religiös geprägt ist. Erstens. Zweitens werden Kirchen seit jeher als Orte verstanden, die Menschen zusammen führen. Man erwartet es von ihnen geradezu, insofern entsteht da kein Wahrnehmungskonflikt.


Ließe sich das Gleiche nicht an einem öffentlichen Ort wie der Stadthalle schaffen?


Unzicker: Selbstverständlich. Meine Sicht hierauf ist: Die Kirche als Veranstaltungsort ist kein Hindernis, aber eben auch keine notwendige Voraussetzung. Der Grundgedanke ist ja, dass Kirche für jeden offen, ist, unabhängig von Stand, Herkunft oder was auch immer. Wichtig ist nur, dass die Veranstaltung nicht konfessionell oder religiös gerahmt ist. Das würde vielleicht einige Menschen ausschließen.


Die Vesperkirche dauert acht Tage. Zu wenig?


Unzicker: Als Ganzjahresveranstaltung würde sie sicherlich nicht funktionieren. Ob sie nun drei, acht oder vielleicht sogar zehn Tage dauert, darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass die Gäste dort eine gute Zeit erleben. Kann sein, dass sie in den anderen 51 Wochen in alte Muster zurück fallen, aber dann haben sie zumindest die gute Erfahrung von Nähe und Willkommensein gemacht. Das kann anhaltenden Effekt haben, dadurch kann etwas aufbrechen. Ein positives Erlebnis von Gemeinschaft wirkt weit über die eigentliche Veranstaltung hinaus.


Gibt es Kriterien für gesellschaftlichen Zusammenhalt? Anders gefragt: Lässt er sich messen?


Unzicker: Bei der Bertelsmann Stiftung haben wir dafür ein Modell entwickelt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt besteht demnach aus drei Hauptteilen. Zum einen aus stabilen, vertrauensvollen und vielfältigen sozialen Beziehungen wie Freundschaften oder einem Vereinsleben. Zweitens aus einer positiven emotionalen Verbundenheit mit dem Gemeinwesen inklusive des Vertrauens in staatliche Institutionen. Drittens aus der Bereitschaft der Menschen, für die Allgemeinheit Verantwortung zu übernehmen.


Wo bröckelt es am meisten?


Unzicker: Tatsächlich verzeichnen wir in allen drei Bereichen spürbare Rückgänge. Am schwersten wiegt aber aus meiner Sicht, dass das zwischenmenschliche Vertrauen und die gefühlte Solidarität der Mitmenschen zurück gegangen sind.


Ist der gesellschaftliche Konsens über zentrale Grundlagen des Zusammenlebens noch da?


Unzicker: Mehrheitlich ja. Da sehe ich auch so schnell keine Veränderung, schon gar nicht eine bedrohliche. Problematisch ist allerdings eine zunehmende Fokussierung auf Extrempositionen, verstärkt durch die besonderen Mechanismen von Social Media. Da liegen Risiken für den gesellschaftlichen und politischen Frieden.


Die Leute reden aneinander vorbei.


Unzicker: Die Diskussionen sind emotionaler, unerbittlicher und in Teilen auch uninformierter geworden. In einer komplizierten Welt, die sich rasch ändert und von vielfältigen

Positionen geprägt ist, brauchen wir aber bessere Verständigung und mehr Gelassenheit und nicht immer mehr Zuspitzung und Aufregung.


Gemeinsam am Tisch sitzen, hilft.


Unzicker: Womit wir wieder bei der Vesperkiche wären. Sicherlich tut es den gesellschaftlichen Zerwürfnissen gut, wenn man einen Tisch aufklappt, ihn eindeckt und die Vorbeigehenden auf ein gemeinsames Schwätzchen zum Essen einlädt. Wenn es richtig gut läuft, könnten sich da der Klimakleber mal mit dem Bonusmeilensammler aussprechen. Oder der Bürgergeldempfänger mit dem Unternehmenserben.


Man spricht und redet die Gesellschaft zusammen, und sei es mit vollem Mund.


Unzicker: In den Reportagen für unser Buch „Anders wird gut“ haben Verena Carl und ich festgestellt, dass sich zunehmend  „neue Formen des sozialen Lebens“ entwickeln. Man ist nicht dauerhaft, sondern nur punktuell bei- und miteinander. Statt 40 Jahre Vereinsmitgliedschaft oder den Langzeit-Stammtisch baut man sich Netzwerke auf. Auch die können belastbar und tragfähig sein.


Welche Art von Netzwerken meinen Sie?


Unzicker: Menschen und Gruppen zu haben, mit denen ich Interessen teile. Mit bestimmten Freunden gehe ich gerne ins Theater, mit anderen gehe ich wandern, mit dritten treffe ich mich sonntags zum Kaffee. Wer viele Anknüpfungspunkte hat und die auch nutzt, bekommt eher das Gefühl, ein aktives Teil der Gesellschaft zu sein.


Klingt ein wenig nach Familienersatz.


Unzicker: Es geht durchaus darum, sich feste Verbindungen abseits von Familie aufzubauen. Was überdies äußerst wertvoll gegen das Gefühl von Einsamkeit ist.


Die Organisatoren der Vesperkiche berichten, dass nicht wenige Gäste alleinstehend sind und die gemeinsame Mahlzeit als Gelegenheit erleben, endlich mal wieder vor die Tür zu gehen.


Unzicker: Einsamkeit ist ein Riesenthema. Wussten Sie, dass man in Großbritannien vor ein paar Jahren als erstes Land weltweit ein Ministerium für Einsamkeit ins Leben gerufen hat? Japan hat inzwischen auch eines. Wer unfreiwillig einsam ist, hat ein höheres Risiko für psychische und auch physische Erkrankungen.


Studien zufolge werden sie eher depressiv, rauchen öfter, trinken mehr, bewegen sich weniger.


Unzicker: Gar nicht gut. Niedrigschwellige, kostenlose Angebote wie die Vesperkirche sind enorm wichtig, um solche Menschen wieder in Kontakt mit Gemeinschaft zu bringen.

 

Zur Person

Kai Unzicker (Jahrgang 1978) ist Sozialforscher und Projektleiter im Programm Demokratie und Zusammenhalt der Bertelsmann Stiftung. Aktuell konzentriert er sich inhaltlich auf die Folgen der Verbreitung von Fehl- und Desinformation – und wie diese den demokratischen Diskus gefährden. Zuvor hat er sich jahrelang intensiv mit Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts beschäftigt. Der gefragte Experte kommentiert aktuelle Entwicklungen in den Medien, berät Politik und Verwaltung und liefert mit empirischen Studien neue Einsichten. Vor seiner Zeit bei der Bertelsmann Stiftung war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung tätig. In Marburg hat er Soziologie, Psychologie und Philosophie studiert, anschließend in Bielefeld promoviert.

 

Zur Vesperkirche

Sie findet von Sonntag, 2. Februar, bis Sonntag, 9. Februar, statt. Zum inzwischen achten Mal. Schauplatz ist wie eh und je die zu diesem Zweck umgebaute Martin-Luther-Kirche in der Innenstadt. Wie in den beiden Vorjahren wird es eine ganztägige Vesperkirche sein, mit Frühstück, Mittagessen, Kaffeetrinken und einem Bütterchen zu Abend - alles kostenlos und offen für jeden. Viele Verbände und Organisationen wirken mit. Gerahmt wird die Vesperkirche wieder von einem Veranstaltungsprogramm. Näheres unter www.vesperkirche-guetersloh.de

 

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