Autor: gt!nfo
05.09.2024
Bevor unsere Autorin Tanja Breukelchen für die Stadt Gütersloh und deren Partnerstädte das C-City-Kochbuch „Cooking and Culture“ (Edition Markus) schrieb, fuhr sie rund 7.000 Kilometer quer durch Europa und sammelte Eindrücke, Geschichten und landestypische Rezepte
Von Tanja Breukelchen
Jetzt hatte ich schon wieder das Foto-Motiv ruiniert. Zuerst beim Cappuccino vom Pfifferling den Schaum abgelöffelt, dann ganz in Gedanken am Carpaccio vom Weiderind genascht. Der Fotograf Bernd Jonkmanns schaut schon ganz genervt. Aber Andreas Kerkhoff kommt noch mit einer zweiten Vorspeisen-Platte durch sein Restaurant Gütsel: perfekt dekoriert und damit das ideale Fotomotiv.
Eine Szene aus dem August 2023. Damals starteten wir mit der Produktion unseres internationalen Kochbuchs „Cooking and Culture“ in Gütersloh. Genau ein Jahr zuvor hatte mir Andreas Kimpel, Beigeordneter für Kultur und Weiterbildung, von der Idee eines gemeinsamen Kochbuchs der Partnerstädte Falun in Schweden, Broxtowe in England, Châteauroux in Frankreich und Grudziądz in Polen im Rahmen des Projektes C-City erzählt. Mein erster Gedanke galt den vielen Kochbüchern, die es ohnehin schon gibt. Wie sollte sich so ein Buch von der Masse abheben? Nach und nach entwickelten wir gemeinsam die Antwort: Unser Buch sollte eine Mischung aus regionalen Rezepten der fünf Städte sein und zugleich deren Geschichten, Hintergründe und Besonderheiten in vielen kleinen Reportagen erzählen.
In Gütersloh beginnt das Abenteuer
Fünf europäische Städte in 20 Tagen, gut 7000 Kilometer mit Auto und Bahn, dazu immer andere Fotografen vor Ort – das klang für mich nach Abenteuer und Herausforderung zugleich. Gemeinsam mit den Teams in den einzelnen Ländern entwickelte ich im Vorfeld enge Termin-Pläne. Den Start machte ich mit Bernd Jonkmanns in Gütersloh, wo wir für die vier anderen Städte eine Art Blaupause produzierten – mit viel Gemütlichkeit und Westfälischer Küche zwischen glücklichen Hühnern auf dem Kiebitzhof, freundlichen Puten vom Meierhof Rassfeld und den aufgeregt summenden Bienen, mit denen Daphne und Bastian Seehaus auf dem Theaterdach in Gütersloh „Bühnenhonig“ produzieren. Das Team vom Wapelbad erzählte die Geschichte hinter den Wapelsternen und verriet deren Rezept. Und Inka und Christoph Fritzenkötter luden für uns gleich die Glockenspieler vom Nachtsanggeläut ein und erzählten, wie es zu den „Gütersloher Glocken“ kam.
Beim zweiten Anlauf auch fürs Foto perfekt: die westfälisch inspirierten Vorspeisen in Andreas Kerkhoffs Restaurant Gütsel in Gütersloh
Ganz schön neugierig rannten uns die Puten vom Meierhof Rassfeld bis zum Zaun entgegen
Zwischen Bären und Wölfen in Schweden
Geschichten und Rezepte überall. Und noch vier weitere Städte zum Eintauchen und entdecken. So ging es weniger Wochen später nach Falun. Die Stadt in der mittelschwedischen Provinz Dalarna ist seit 1994 Partnerstadt von Gütersloh und erzählt die Geschichte ihrer seit 1992 stillgelegten Kupfermine, die zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört: In einer Konditorei nahe des Marktplatzes gibt es Weltkulturerbe-Törtchen, deren Himbeerfüllung an Kupfer erinnert. Gleich am Schlund der 1687 zum Teil eingebrochenen Mine kann man im Restaurant Geschwornergården die in alten Zeiten als Einfache-Leute-Gericht beliebte Wurst essen, nur eben die Edel-Variante. Eine Brauerei überrascht mit knallrotem Bier. Und sogar der Saunaaufguss im örtlichen Spa erinnert mit viel Knacken und Knistern an die Arbeit unter Tage. Mein absolutes Highlight allerdings war ein Frühstück in der Natur: Am offenen Feuer kochte der Kaffee und brutzelten die Pfannkuchen, während ich an einem Dala-Pferde schnitzte und nicht genug bekam vom Blick auf den in der Sonne glitzernden See Runn.
Mit dem Auto ging es via Fähre nach Dänemark, über die Öhresundbrücke nach Schweden und dort in Richtung Falun
Gigantisch wirkt der riesige Krater der einstigen Kupfermine von Falun, die heute zum Weltkulturerbe der UNESCO gehört
Polen kurz vor der Wahl
Dann Rückfahrt in der Nacht, mit dem nervenkitzelnden Gefühl, dass in den dichten Wäldern neben Elchen auch Bären und Wölfe leben. Strecke machen. Und gleich wieder eintauchen ins nächste Land: Polen mit Grudziądz, einer an der Weichsel liegenden Backstein-Schönheit. Auch dort leben wilde Tiere, aber in einem Wald mitten in der Stadt, wo mich der Umwelterzieher in Dienstuniform begrüßte und gleich Gläser mit Eingekochtem Obst als Gastgeschenk überreichte. Diese Gastfreundschaft setzte sich fort und blieb ebenso im Gedächtnis wie die köstliche Tradition wärmender Suppe, eine Buckelpistenfahrt entlang der Weichsel und einem immer mitschwingendem Gefühl der Ungewissheit, denn die Buchproduktion war nur wenige Tage vor der polnischen Parlamentswahl im Oktober 2023. Ein Datum, das damals für viele, die ich traf, eine Mischung aus Hoffnung und Unbehagen hervorrief und auch für mich spürbar war.
Das polnische Grudziądz liegt direkt an der Weichsel und wirkt ganz verwunschen mit seinen schönen, in der Sonne leuchtenden Speichern aus Backstein.
Im Umweltzentrum gab es Wild-Spezialitäten und fantastisches Eingemachtes.
Holpriger Start in England
Anfang November dann ein Augenblick der Verwirrung: Ich wachte in einem Hotelzimmer auf und war nicht mehr ganz sicher, in welchem Land. Das kam vom vielen Reisen. Nach ein paar Sekunden wusste ich, ich bin in Broxtowe und hatte am Abend mit Schrecken festgestellt, dass mein Handy-Akku zur Neige ging und ich keinen Adapter-Stecker für England dabei hatte. Außerdem war ich am Bahnhof völlig übermüdet auf der falschen Seite ins Taxi gestiegen und dem Fahrer dabei fast auf dem Schoß geklettert. Also erst einmal wieder zur Ruhe kommen – natürlich beim Essen, das sich zwischen köstlichen Torten, Menüs am Kamin-Feuer und traditionellen Gerichten wie Weihnachtspudding bewegte. An einem Abend besuchte ich eine Veranstaltung in einer Art Gemeindehaus, auf der sozial engagierte Menschen geehrt wurden und sich danach über ein herrlich britisches Büffet aus Sandwich-Kreationen hermachten.
Lamar Francois fotografiert im Geburtshaus von D.H. Lawrence einen Tisch, den wir zuvor mit regionalen Köstlichkeiten gedeckt haben.
Purer Genuss in Frankreich
Und dann? Ging es auch schon nach Frankreich, nach Châteauroux, 1977 Güterslohs erster Partnerstadt. Zu High Cuisine mit besten Weinen und Menschen, für die Essen Kultur, Genuss und Leidenschaft zugleich ist. Ein laut schimpfender Ziegenbock empfing uns an einem der Orte, an dem der für die Region typische cremige Käse hergestellt wird. Und beim Menü des Sternekochs Christophe Marchais stockte mir der Atem, so fein kreiert waren seine Speisen – von den Rehfleischbällchen mit Käse aus der Region bis zum traditionellen Birnenkuchen aus Mürbeteig. Als Krönung ging es zur jährlichen Gastronomie- und Weinmesse der Stadt, wo Wurst in riesigen Töpfen gekocht, Wein getestet und Gänsestopfleber verkauft wurde. Bei Letzterer kam mir ein wenig die Erkenntnis, dass es bei allen Gemeinsamkeit durchaus Unterschiede gibt, die aber vor allem eines sind: spannend.
Nieselregen-Empfang ausgerechnet im am südlichsten liegenden Châteauroux. Aber immerhin mit erster Weihnachtsdeko.
Fantastische Weine, großartiges Essen. In Châteauroux weiß man zu genießen und das Leben zu feiern.
Blick über den Tellerrand
Und so reiste ich zurück an meinen Schreibtisch, mit vielen Geschichten im Kopf, Unmengen Rezepten im Block und neuen Menschen im Herzen. Beim Schreiben waren es doch die Gemeinsamkeiten, die auffielen und die Idee, dass man vieles von einander lernen kann. Spannende Startups hatte ich entdeckt, die sich allesamt der Pandemie zum Trotz mit ihren Träumen selbständig gemacht haben, so wie die junge Nelly Vossier mit ihrem Schokoladen-Atelier in Châteauroux oder Madu Prinica mit einem Torten-Geschäft in Broxtowe. Oder trendige Concept Stores mit Produkten aus der Region, wie der des Architekten Martin Stintzing, bei dem ich in Falun die wahrscheinlich schärfste Soße meines Lebens gekauft habe, oder die Idee von „Essen“ in Broxtowe, wo man die Produkte in den Regalen gemeinsam an einem großen Holztisch in fantastischen Speisen probieren kann. Und genau wie es in Gütersloh die Landschaftsarchitektin Daniela Toman ist, die mit Begeisterung durch den Botanischen Garten führt, zeigt nahe Falun die stets lachende Lotta Forsstedt im Garten hinter dem Hochzeitshaus des Naturforschers Carl von Linné, welche Pflanzen man naschen darf.
Menschen verbinden und Herzen berühren
Übrigens nicht das einzige Haus mit Tradition und großen Namen: Gleich bei Falun steht auch das Haus des Malers Carl Larsson, das neben regelmäßiger Inspiration für die Designer von Ikea auch für unser C-City-Kochbuch gute Ideen bereithielt, nämlich in Form alter Rezepte. Außerdem findet sich bei Broxtowe das Geburtshaus des englischen Dichters D.H. Lawrence, ebenfalls mit einem Fundus alter Kochbücher. Nicht zu vergessen die gemeinsame Tradition des Brotes und all dem, was man daraus machen kann – vom Pfannenpickert in Gütersloh über Knäckebroteis in Falun bis zur sauren Roggensuppe in Grudziądz.
So viel Inspiration. So viele Rezepte. Und dann dieser Moment, als ich das frisch gedruckte C-City-Kochbuch „Cooking and Culture“ in diesem Sommer in den Händen hielt – mit der Erkenntnis, dass genau dieses Kochbuch gefehlt hat, weil es viel mehr ist als eine Sammlung von Rezepten aus fünf Ländern. Es ist eine Reise zu Menschen und Geschichten, die Europa verbinden und Herzen berühren.