1984 – ein magisches Jahr

Autor: gt!nfo

Fotos: Zimmermann / Archiv

09.02.2024

„1984“ – die Älteren werden sich noch erinnern. An das Jahr und an die Zukunftsvision von George Orwell. Der Bestseller war Schullektüre und Schreckensszenario für eine Totalüberwachung: „Big Brother is Watching You“. Wohl deshalb schauten alle mit großer Aufmerksamkeit auf dieses Jahr, das seinerzeit unversehens von der Metapher für „Zukunft“ zur Gegenwart geworden war. Für Gütersloh war 1984 ein magisches Jahr – warum, zeigt unser kleiner Rückblick auf Ereignisse vor 40 Jahren.

 

Text: Susanne Zimmermann

Bilder: Stadtarchiv, Archiv Zimmermann

 

 „Frischer Wind ins Rathaus Gütersloh“! - Ja, ist denn schon wieder Wahlkampf? Noch nicht, aber der Zufallsfund aus dem eigenen Archiv hat ein Stück kommunaler Vergangenheit hochgespült, das unter die Lupe genommen werden will. Wir schreiben das Jahr 1984, und DIE GRÜNEN sind es, die mit einem „ausführlichen Kommunalwahlprogramm“ zum 30. September in den Rat einziehen wollen. Brav getippt in den gängigen Schriftarten, die die Schreibmaschinen damals zu bieten hatten, wendet sich das grüne Kollektiv (Namen erfahren wir nicht) gegen „Kahlschlagsanierung in der Innenstadt“ und den „verfilzten Machtapparat“ aus drei Ratsparteien, die „bis auf wenige Ausnahmen“ einstimmig die Vorlagen der Verwaltung abstimmen. Es folgt auf 50 Seiten eine ausführliche Darstellung der Ziele in allen kommunalen Bereichen, zu denen die Nutzung eines städtischen Gebäudes als Frauenhaus ebenso gehört wie die Forderung nach einer Gesamtschule oder die finanzielle Förderung von Arbeitsloseninitiativen. Das Ergebnis der Kommunalwahl sei vorweggenommen: Mit 10,8 Prozent der Wählerstimmen und fünf Sitzen wurden DIE GRÜNEN zum ersten Mal Teil des Gütersloher Rates.

 

Als „Annus mirabilis“ bezeichnet der Gütersloher Historiker Eckhard Möller das Jahr 1984 in einem Aufsatz für die Gütersloher Beiträge des Heimatvereins – ein fester Begriff für Jahre, die von außergewöhnlichen Ereignissen geprägt sind. Ob er darunter auch den Einzug der GRÜNEN in den Gütersloher Rat subsumiert, bleibt in dem Beitrag von 2020 offen, der die Geschichte der Weberei unter dem Aspekt der „Soziokultur“ analysiert. Auch das Gütersloher Bürgerzentrum ist so ein Kind des Jahres 1984. Im Januar des Jahres wird sie als „Alte Weberei“ in den restaurierten und umgebauten Räumen der ehemaligen Fabrik „Greve&Güth“ eröffnet. Ein soziokulturelles Projekt mit Modellcharakter, ein Erfolg bürgerschaftlichen Engagements nach vielen Diskussionen und gegen die Pläne der Verwaltung, die aus dem Gelände einen Parkplatz machen wollte.

 

Besinnung auf Geschichte und Zukunft

 

1984 steht heute als ein Jahr des Aufbruchs in der All-Time-Chronik der Stadt Gütersloh. Markus Corsmeyer, Chefredakteur dss gt!nfo, hat die Gedanken des früheren Stadtarchivars Stephan Grimm bereits 2009 aufgenommen und die Besonderheit von 1984 in seinem Buch „Was für Zeiten“ – eine lokale Kursbestimmung aus Anlass des 60. Geburtstags der Bundesrepublik – hervorgehoben. Dabei ist die „Zeitenwende“ mit Eintritt der GRÜNEN in den Rat noch nicht einmal Bestandteil der Analyse. Dafür nimmt Corsmeyer  Bezug auf die „zahlreichen Bildungs- und Kultureinrichtungen“, die anno ’84 eröffnet wurden und deren Wirkung bis heute anhält. Außer der Weberei feiern auch Stadtbibliothek und Mediothek am Evangelisch Stiftischen Gymnasium 40. Geburtstag. 

 

Einen Schritt nach vorn erlebt im Jahr 1984 auch die Auseinandersetzung mit der eigenen jüngeren Stadtgeschichte. Mit Stephan Grimm stellt die Stadt Gütersloh zum ersten Mal einen professionellen Stadtarchivar an, nachdem ein Jahr zuvor die Ratsentscheidung für die Einrichtung eines Stadtarchivs gefallen ist  – im Vergleich zu anderen Städten eher spät, wie die Historiker um Christoph Lorke anmerken, die zurzeit die Stadtgeschichte nach 1945 erforschen. 1984 ist auch als Jahr verzeichnet, in dem der Gedenkstein für die jüdische Synagoge errichtet wurde, die an der Daltropstraße stand und in der Pogromnacht 1938 niedergebrannt wurde. Zu den Gästen, die damals dabei sind, gehört Jehuda Barlev, der als gebürtiger Gütersloher als erster die Geschichte der Jüdischen Gemeinde und ihre Vernichtung durch den Nationalsozialismus aufgeschrieben hat.

 

Aber auch das Bewusstsein für die historischen Wurzeln der Stadt hat seine Zeit in diesem Jahr. Gütersloh feiert 800 Jahre mit vielen Veranstaltungen und einem City Treff unter dem Motto „800 Jahre jung geblieben“. Anlass ist die erste urkundliche Erwähnung des Dorfes 1184 in einer Urkunde des Osnabrücker Bischofs. Zum ersten Mal mag dabei vielen Güterslohern aufgegangen sein, dass ihre junge Stadt bereits im Mittelalter einen Namen hatte.

 

In die Zukunft verweisen zwei große Medienprojekte, beide in ihrer Zeit Modelle für die ganze Republik: Die Stadtbibliothek ist mit ihrem zentralen Café, gemütlicher Einrichtung und ihrem komplett offenen Zugang Treffpunkt im Zentrum der Stadt statt Bücherburg. Die Mediothek des ESG wiederum zeigt nicht nur mit Spiegelfassade in Richtung Zukunft, sondern bietet in ihren Räumen alle Voraussetzungen für einen zukunftstauglichen Medienunterricht. Doch auch als Galerie für „Kunst und Schule“ schafft sie Platz. Zur Eröffnung kommt der damalige NRW-Ministerpräsident und spätere Bundespräsident Johannes Rau. Beide Projekte sind eng mit dem Haus Bertelsmann und der Bertelsmann Stiftung verbunden. Für den Chef des Hauses, Reinhard Mohn, war die die Förderung des Umgangs mit Medien ein Herzensanliegen. Kleiner Sidekick mit Blick aufs Unternehmen: 1984 stieg Bertelsmann mit RTL ins Privatfernseh-Geschäft ein.

 

Weichen gestellt

 

Für ein weiteres Bildungsprojekt werden im Jahr 1984 per Ratsbeschluss die Weichen gestellt. Mit einer Mehrheit aus SPD, den GRÜNEN und der FDP wird - bei Gegenstimmen und Enthaltungen der CDU - die Errichtung einer Gesamtschule für Gütersloh beschlossen. Hier schließt sich sozusagen der Jahreskreis, denn Anfang 1984 – vor der Kommunalwahl - war der Antrag einer Initiative für eine Gesamtschule noch mehrheitlich abgelehnt worden. Und dass diese Gesamtschule später den Namen von Anne Frank tragen sollte, stellt die Beziehung zum Synagogen-Gedenkstein wieder her.

 

Ob den handelnden Personen damals schon die Magie dieses Jahres bewusst war? – Oder erschließt sich die Besonderheit eines Jahres oder einer Epoche eher aus der Rückschau oder der Wirkungsgeschichte? Eines lässt sich auch durch die persönliche Erinnerung der Autorin dieses Artikel bestätigen, die im Jahr 1984 ihre Berufslaufbahn als Journalistin begann:  All die genannten Beispiele sind Teil eines wachsenden Selbstbewusstseins einer Stadt, die sich im allgemeinen eher pragmatisch den Anforderungen gestellt hatte, wie sie vor allem durch eine florierende Wirtschaft gestellt wurden. Die Besinnung auf die eigene Geschichte, die Dynamik der Gegenwart und die Bedeutung aller Projekte für die zukünftige Entwicklung der Stadt kommen in diesem Jahr vielleicht als Zufall zusammen. Doch sie sind letztlich eingebettet in eine Entwicklung, die auch die Achtziger Jahre insgesamt prägt und die sich unter anderem im Erlass eines Denkmalschutzgesetzes (1980), die Pflicht zur Einrichtung kommunaler Archive, in der Gründung der GRÜNEN (1980) oder auch in der Diskussion um die Einführung von Gesamtschulen in NRW widerspiegelt. So ist 1984 für Gütersloh ein glückliches Jahr und nicht das Jahr, in dem der „große Bruder“ sein Auge auf alle Lebensäußerungen der Gesellschaft hat. Das kommt dann später, und das ist eine globale Geschichte. 

 

BUs

Treffpunkt Stadtbibliothek: Veranstaltung im Foyer in der Anfangszeit


Damals wie heute ein architektonisches Statement: Mediothek am ESG.

Der erste seiner Zunft in Gütersloh: Stephan Grimm, 1984 der neue Stadtarchivar.

800 Jahre jung: Zum City-Treff im Jubiläumsjahr kam Harald Juhnke auf den Berliner Platz.

Mit vielen Gästen wurde der Gedenkstein am ehemaligen Synagogenstandort enthüllt.

Der Style ist geblieben: schon zur Eröffnung warb die Weberei mit Banner und Plakaten.

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