Autor: Heiner Wichelmann
Fotos: Heiner Wichelmann
26.12.2024
Fachbereichsleiter Andreas Reinhold: „Jugendliche brauchen ihre eigenen Treffpunkte.“
Auf 100 Jahre Unterstützung, Förderung und Schutz der Kinder und Jugendlichen in Gütersloh blickte in diesem Jahr das Jugendamt der Stadt zurück. Ein Jubiläum, das in Breite und Tiefe mit einem respektablen Veranstaltungsprogramm gewürdigt wurde. Dazu zählte auch der Vortrag „The Kids are alright“ des Osnabrücker Journalisten Bent Freiwald Anfang November in der Aula des Städtischen Gymnasiums. Anlass für gt!nfo, Andreas Reinhold, Fachbereichsleiter Jugend und Familie im Rathaus und Moderator des Abends im Gymnasium, zu fragen: „Alles in Ordnung bei der Jugend in Gütersloh?“ Reinhold beruhigt: Probleme durchaus, Krise keine.
Interview: Heiner Wichelmann
Herr Reinhold, gibt es bei der Jugend in Gütersloh Erfahrungen mit Gewalt, Drogen, Mobbing und Kriminalität? Statistische Zahlen zeigen laut den jährlichen Berichten der Kreispolizei eher einen beruhigenden Trend nach unten. Was berichten Ihnen Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?
Reinhold: In Gütersloh, so möchte ich es beschreiben, ist alles relativ stabil. Es gibt keinen wirklichen Anlass zu größerer Sorge bei einem Einzelthema. Das deckt sich auch mit den Erkenntnissen des aktuellen Bundesjugendberichts, der gerade erschienen ist, und auch mit den statistischen Befragungs-Auswertungen der Shell-Studie 2024, wobei es bei Einzelthemen durchaus differenzierte Angaben je nach Wohnort, sozialer Umgebung, Bildungsstand und der Einkommenssituation der Familien gibt. Hier in Gütersloh haben wir immer mal mit Gruppen zu tun gehabt, die uns Sorgen gemacht haben. Früher wurde zum Beispiel viel mehr Nikotin geraucht. Ich glaube nicht, dass mit dem Inkrafttreten des neuen Cannabisgesetzes im Frühjahr dieses Jahres, das ja unter bestimmten Voraussetzungen den Konsum legalisiert, dieser Konsum bei uns jetzt zugenommen hat. Auch Drogentote sind über die Jahre deutlich rückläufig. Wir haben Anfragen von Elternschulpflegschaften zum Thema Sicherheit und Mobbing bekommen. Die Polizeiberichte geben eine Verschlechterung der Situation nicht her.
Sicher gibt es aus ethnischen, kulturellen, soziologischen und finanziellen Gründen nicht nur eine, sondern viele „Jugenden“, gleichwohl ist unsere Frage: Stellen Sie an irgendeiner Stelle eine signifikante Entwicklung in der allgemeinen Lebenseinstellung der Jugend in Gütersloh fest?
Reinhold: Nicht weniger und nicht mehr als irgendwo anders. Ein Fakt ist, dass es weniger Schulabbrecher als früher in Gütersloh gibt. Die Grundeinstellungen der sogenannten Generation Z, wie zum Beispiel der Wunsch nach einer Work-Life-Balance im Leben, finden Sie auch bei unseren jungen Menschen. Ich empfinde das auch als eine durchaus gesunde Einstellung. Es wäre einseitig, ihnen das anzulasten. Schließlich haben wir 20 Jahre lang die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gepredigt!
Muss man sich Sorgen machen, dass politisch rechte Thesen bei Jugendlichen auch in Gütersloh durchaus verfangen?
Reinhold: Ja, das rechte Wahlspektrum ist ja heute mehr wählbar als früher. Aber das gilt für die gesamte Gesellschaft und auch international. Und natürlich spiegelt sich das auch bei Teilen der Jugend wider. Das ist kein Jugendthema, das ist ein gesellschaftliches Thema.
Es heißt, dass Jugend heute mehr Angst kennt, weniger den Glauben an gesellschaftliche Utopien. Stimmt das?
Reinhold: Ja, das ist ein Faktor. Gleichzeitig gibt es aber entgegen der allgemeinen Vorstellung ein großes Vertrauen der Jugend in gesellschaftliche Institutionen wie der Polizei, den Gerichten, staatlichen Verwaltungen. Laut der Shell-Studie, die die Einstellungen der Jugend in Deutschland bereits seit 70 Jahren beobachtet, ist das Vertrauen wieder gestiegen. Gleichzeitig steigt aber die Verunsicherung der Menschen generell, denn die Welt wird komplizierter, komplexer. Und die modernen Medien haben unglaubliche Möglichkeiten der Beeinflussung. Sie haben eine total andere Präsenz, und sie sind gerade in der Social-Media-Welt deutlich weniger gefiltert und sortiert. Gleichwohl hat sich die sächliche Lebenssituation von Jugendlichen nicht verschlechtert. Prof. Reinhard hat auf der Abschlusstagung unseres Jugendamt-Jubiläumsjahres viel Optimismus verbreitet. Er sagt: Alles wird besser in der Zukunft. Das gelte auch schon für heute und er nannte als Beispiele die geringere Kindersterblichkeit, die höhere Lebenserwartung, das gestiegene Bildungsniveau, eine insgesamt bessere Gesundheitslage, weniger Kriege, Tötungsdelikte und Hunger. Es sei unzweifelhaft, dass sich die Lebenssituation insgesamt gebessert habe. Und trotzdem fühlt es sich so an, als ob alles schlechter werde.
Weil man uns Angst vor der Zukunft einredet? Trump, Putin, AfD?
Reinhold: Ich glaube nicht an die große Verschwörungstheorie. Da werden vermeintlich einfache Antworten auf total komplizierte Fragen gegeben. Dabei gibt es immer mehr unterschiedliche Informationen aus allen Richtungen weltweit. Das ist gerade für Jugendliche eine Riesenherausforderung. Ich denke, es war früher einfacher, Entscheidungen zu treffen. Man machte eine Ausbildung, ging rein in den Beruf und blieb oft bis zur Rente im Unternehmen und im Beruf. Denken Sie an die Miele-Familien hier in Gütersloh. Diese Tradition stirbt langsam. Wer heute was erreichen will, muss sich sehr anstrengen, schon bei der ersten Berufswahl, die mit Sicherheit nicht die letzte sein wird. Der Druck bei der Berufsentscheidung ist heute größer. Es kann auch eine falsche Entscheidung sein. Die Verantwortung für diese Entscheidungen werden aber nicht den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern dem einzelnen Menschen auferlegt: Du bist Deines Glückes Schmied, aber auch selbst schuld, wenn Du es verbockst.
Dafür gibt es heute aber auch nicht mehr das Problem der Jugendarbeitslosigkeit, oder?
Reinhold: Heute werden die Berufsanfänger teilweise direkt aus den Schulen rekrutiert. Das ganze System der Berufsberatung, Berufsorientierung und Förderung hat sich sehr verändert. Im Kreis Gütersloh gibt es Übergangscoaches, das sind Fachkräfte, die jungen Menschen helfen, durch die Berufsorientierung durchzufinden. Vor über zwölf Jahren noch haben wir im Kontext des Jugendförderplans im Jugendhilfeausschuss diskutiert, was wir mit Jugendlichen machen, die überhaupt keine Chance haben auf eine Erwerbsperspektive, auf den ersten Arbeitsmarkt. Es gab schlicht nicht genügend Ausbildungsplätze, um alle Jugendlichen unterzubringen. Die Situation heute ist eine andere. Unternehmen sind jetzt deutlich toleranter, wenn einer mal nicht morgens da ist, einfach, weil sie es sein müssen. Jugendliche, die trotzdem große Schwierigkeiten beim Einstieg ins Berufsleben haben, gibt es aber immer noch. Die brauchen weiterhin Unterstützung.
Können Sie beobachten, dass der Umgang mit den neuen Medien das Kommunikationsverhalten der Jugendlichen verändert hat?
Reinhold: Da bin ich mir unsicher. Wir Erwachsenen haben die Vermutung, dass es so sei. Allerdings hat sich die Kommunikation insgesamt verändert. Wir alle müssen heute sehr viele Infos in sehr kurzer Zeit verarbeiten können. Da kommt das nachdenkliche Gespräch möglicherweise zu kurz. Aber das Bedürfnis von Menschen zum Austausch mit Freunden, in der Arbeit oder in der Familie bleibt, und das ist auch bei den Jugendlichen so. Geändert hat sich ganz sicher auch, welche Medien dafür vornehmlich genutzt werden.
Reagieren Jugendliche heute empfindlicher auf Entwicklungen in der Gesellschaft. Stichworte Klima, Corona, Kriege und so weiter?
Reinhold: Die Sensibilität ist da und Krisen beschäftigen und verunsichern Jugendliche nachhaltig. Aber wie waren wir mit 15, 16 Jahren?
Ist das Mobbing unter Jugendlichen ein Thema in Gütersloh, gibt es Ausgrenzungserfahrungen, zum Beispiel aufgrund der Ethnie?
Reinhold: Ja, weil es so einfach ist in den digitalen Medien. Aber signifikant anders als woanders in Deutschland ist das nicht.
Ist Gütersloh genügend ausgestattet mit Sozial- oder Erlebnisräumen für die Jugendlichen oder fehlt hier und da doch ein Basketballkorb?
Reinhold: Wir stehen hier in Gütersloh gar nicht so schlecht da. Das Problem ist eher eine Dissonanz von Angebot und Nachfrage. Die Stadt, die Vereine, die Weberei, auch die Kirchen und so weiter halten viel mehr vor, als teilweise nachgefragt beziehungsweise bekannt wird. Angebot und Nachfrage zusammenzubringen, gelingt nur über Kommunikation. Ich glaube, wir haben in Gütersloh eine sehr gute Struktur entwickelt, zumindest was den öffentlichen Sektor angeht. Aber klar ist auch, dass das nicht mehr alles abdeckt.
Was wollen Jugendliche heute von einer Stadt?
Reinhold: Das ist wohl nicht anders als bei den Erwachsenen: vor allem gute Einkaufsmöglichkeiten, Freude am Shoppen gehen, Orte, wo sie sich aufhalten und etwas erleben können. Das Problem ist, dass Städte durch die Online-Konkurrenz gefährdet sind und vor dem Ausbluten geschützt werden müssen.
Engagieren sich Jugendliche in Vereinen, egal ob Politik, Kultur, Sport?
Reinhold: Wir haben hier in Gütersloh eine hervorragende Verbandsstruktur, sie wird auch nachgefragt, aber wir beobachten, dass der langfristige Bindungswille eher abnimmt und das schon seit Jahrzehnten. Der Sport ist da ein bisschen die Ausnahme. Und was das politische Engagement betrifft: Die Themen sind oft abstrakt und die Realisierungszeiten, denken Sie an die Stadtplanung, unglaublich lang. Die Mansergh Barracks werden schon seit Jahren auch im Jugendparlament diskutiert. Die damals 15-Jährigen studieren heute in anderen Städten.
Bei der Planung und Realisierung der neuen Pump-Track-Anlage an der Dalke-Brücke hat das aber doch gut funktioniert?
Reinhold: Richtig. Da waren viele Jugendliche beteiligt. Von der Planung bis zur Eröffnung.
Stichwort Jugendparlament: ein Erfolgsprojekt in Gütersloh?
Reinhold: Ja. Wir haben die auch nie allein gelassen, waren immer unterstützend, strukturierend dabei. Am Anfang hatte das die Politik nicht so interessiert, inzwischen ist das anders. Es gibt auch ehemalige Mitglieder, die heute im Rat sitzen. Wir sehen Jugendliche als Seismographen der gesellschaftlichen Entwicklung und freuen uns sehr über ihr tolles Engagement.
Wenn eine gute Fee Sie nach Ihrem größten Wunsch mit Blick auf die Situation der Jugendlichen in Gütersloh fragt: Welcher wäre es?
Reinhold: Ich bin schon ganz zufrieden, wenn es mit Blick auf die Finanzlage so bleibt, wie es zurzeit noch ist, wenn wir also die Struktur so halten können. Aber wenn ich dann doch einen kleinen Traum äußern dürfte: Ich fände es sehr cool, wenn man eine große Halle mit einem offenen Kultur- und Sportangebot zum Beispiel auf dem Gelände der Mansergh Barracks bekommen könnte, mit einer Kletterwand und einer Parcouranlage. Das wäre ein Leuchtturm für junge Menschen. Ein solcher besonderer Treffpunkt fehlt in Gütersloh. Allerdings könnte das die Stadt nicht alleine stemmen, da müsste es auch Sponsoren geben.