Wo bist Du denn wech?

Autor: gt!nfo

03.11.2021

Den Ostwestfalen sagt man keine große Offenheit gegenüber Auswärtigen nach. Das sind Menschen, mit denen sich Ostwestfalen maximal bei Auswärtsspielen unterhalten … auf der Suche nach dem gegnerischen Stadion.


In meiner Kindheit in den 70ern herrschte bei Ureinwohnern der Region noch folgendes Prinzip: „Wir Ostwestfalen brauchen für Fremdenfeindlichkeit keine Ausländer. Bei uns reicht es schon, wenn man ein Dorf weiter geboren ist.“ Damals hat man in ländlichen Gemeinden als Katholik noch keine Protestantin geheiratet, Kindergärten waren konfessionell getrennt, und im Bus saßen Protestanten allein, da Katholiken Auto fuhren … eine Frühform des Social Distancing. Wie es Auswärtigen erging, die meinten, Ostwestfalen besiedeln oder gar unterjochen zu wollen, mussten schon die Römer in der Varus-Schlacht im Jahr 9 n.Chr. in der Nähe von Osnabrück erfahren. Erst der Westfälische Friede, ebenfalls in Osnabrück und in Münster geschlossen, beendete 1648 die endlos erscheinende Fehde zwischen dem Hl.römischen Reich deutscher Nationen mit Frankreich und Schweden, den Auswärtigen der damaligen Zeit. Soviel zu den Vorurteilen über uns.


Heute ist Ostwestfalen eine bunte, wirtschaftlich starke, global agierende Region, in der viele Menschen „second generation“, also der hier geborene Nachwuchs von Einwanderer-Familien sind. Das hat die Weltoffenheit der Ureinwohner sehr bereichert. Deswegen reibt man sich erstaunt die Augen, wenn nach einer Diskussion bei Lanz über die Frage nach der Herkunft nur Rassismus die Rede ist.


Elke Heidenreich hat ihre Sicht auf die Causa Sarah Lee Heinrich, Vorsitzende der Grünen Jugend, so bodenständig formuliert, dass sie sich dabei verbal vergaloppiert hat, was einen Shitstorm über ihre vermeintlich rassistischen Äußerungen ausgelöst hat. Wer einen Shitstorm lostritt, leidet meist selbst unter verbaler Diarrhö.


Wer Elke Heidenreich und ihre Bücher kennt, weiß natürlich, dass sie weit entfernt vom rechten Rand politisch steht und keine Rassistin ist. Dass sie sich das Gendern nicht vorschreiben lassen will, von den sprachlichen Fähigkeiten mancher junger Menschen nicht überzeugt ist und sich weiterhin kölsch direkt mit Menschen aus allen Damen-und Herrenländern austauschen will, macht sie noch nicht zur alten weißen Frau, die von gesellschaftspolitischen Fragen von heute keine Ahnung hat. Oder dürfen sich Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Alters künftig nicht mehr zu aktuellen Themen äußern? Ist das eine Diskussions-Triage?


Wenn Sarah Lee Heinrich von der Grünen Jugend für ihre peinlichen Posts aus Teenie-Zeiten zurecht Welpenschutz verdient, hat Elke Heidenreich dann beim Thema Gendern und Herkunftsfragen nicht Altersschutz verdient?

Um Dieter Nuhrs alte weiße Stammtischsprüche über Greta zu ertragen, muss man nicht unter zwanzig sein. Ebenso abwegig der mittelalte blaugelbe Ulf Poschardt von der Welt: „Die jungen, intelligenten, unangepassten Erstwähler haben FDP gewählt.“ In den Tagesthemen wurde am nächsten Tag der 18jährige Finn befragt, warum er sich für die FDP entschieden hat. „Ich habe gerade den Führerschein gemacht und keinen Bock auf 130.“ So unangepasst muss man sein, um Meinungsfrührentner Poschardt für einen Gleichgesinnten zu halten. Altklug wäre mir immer noch lieber als jung und dämlich.


Haben alle, die bei der Lanz-Diskussion eine „Heim ins Heidenreich“-Stimmung zu vernehmen meinten, überhaupt die Sendung gesehen oder Ausschnitte bei YouTube? Die meisten wahrscheinlich nur die Tweets aus dem Shitstorm, zum Beispiel von Jan Böhmermann:

„Ein Tag, der mit dem rassistischem Meltdown von Elke Heidenreich beginnt, endet stimmig mit dem Fackelmarsch vorm Reichstag“. Dieser Kommentar ist doppelt daneben, weil er weder Elke Heidenreich gerecht wird, noch dem großen Zapfenstreich für die Afghanistan-Veteranen. Das ist in dieser Zuspitzung einfach nur saudumm und nicht mal witzig, wie so oft bei Böhmermann in letzter Zeit. Wenn einem nix mehr einfällt, packt man die Nazikeule aus. Aber zumindest spricht da ein Fachmann für feinfühliges Interesse an Andersartigkeit, der einen Despoten wie Erdogan allein wegen seiner türkischen Herkunft zum „Ziegenficker“ erklärt hat. Satire darf alles, muss aber nicht. Zumal, wenn keine differenzierten Gedanken zum Thema vorhanden sind. Stattdessen wird reflexartig draufgehauen, weil dass Traffic sprich Reichweite generiert. Andere Meinungen zu denunzieren ist zum Social-Media-Volkssport geworden.


Das Böhmermännchen, die „Krawallschachtel“ (Zitat Harald Schmidt) aus einfachen Verhältnissen in Bremen stammend, ist bekanntermaßen polysexuell veranlagt und soll neben Frau und Kindern ein sadomasochistisches Verhältnis mit dem Mann von Jens Spahn und Alice Weidel haben.

So oder so ähnlich müsste wohl die Kernbotschaft lauten, in einem Twittergewitter verbreitet, um für eine Kolumne Aufmerksamkeit zu generieren. Diese Art des Humorwichtelns überlassen wir lieber den Fachleuten.


Ich habe kürzlich eine fröhliche Chefin eines italienischen Restaurants in München wegen ihres Akzents gefragt, ob sie russische Wurzeln hat. Daraufhin hat sie mir erklärt, dass sie aus Estland stammt, deutsche Wurzeln hat, aber in einem Ort nahe der Grenze zu Russland aufgewachsen ist und deswegen russisch gesprochen hat. Neben einer Beschreibung der Schönheit der Region am baltischen Meer, habe ich erfahren, dass Esten selbst dort nicht hinreisen, weil sie nicht bei „Russen“ Urlaub machen wollen. Ein interessanter Exkurs über eine Region am Rande Europas, weil ich die Dame nach ihrer Herkunft gefragt habe. Fragen aus Interesse und mit Respekt für individuelle Lebenswege bereichern die Allgemeinbildung und damit den eigenen Horizont.


Wenn ein gebürtiger Ostwestfale in der Fremde jemand fragt: „Wo bist Du denn wech?“ und sein Gegenüber jubilierend sagt: „Ja, ich auch!“, spielt bei beiden Ostwestfalen weder die Hautfarbe noch der Nachname eine

Rolle … der gemeinsame Dialekt verbindet.


Das Motto bleibt: Vielfalt statt Einfalt!

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