Differenziertes Denken

Autor: gt!nfo

Fotos: Martin Quilitz

19.05.2021

Von Martin Quilitz


Zunächst einige einfache Beispiele aus dem Alltag.

Viele Menschen wollen Fleisch essen, wissen aber nicht, wie dieses in gigantischen Schlachthöfen in Form gebracht wurde. Vegetarier und Vegane werden gerne bespöttelt als Menschen ohne Lebensfreude, weil ihnen die Lebensfreude aller Lebewesen am Herzen liegt. Viele finden es gut, wenn es mehr Bio-Lebensmittel gibt, kaufen selbst aber lieber preiswert ein. Die Fähigkeit zu differenzieren ist also da, sie wird nur sehr unterschiedlich eingesetzt.

Durch die Gewissensprüfung, die 1985 noch Voraussetzung für Zivildienst war, weiß ich, dass ich zwar meine Freundin im Wald gegen einen Angreifer verteidigen würde, aber keine Waffe in die Hand nehmen kann und deswegen für Altenpflege bei der Diakonie geeignet bin. Seitdem komme ich nicht nur mit Ambivalenzen klar, sondern habe bei Waldspaziergängen mit der Partnerin statt Schusswaffen zu Handkeilen gespitzte Tannenzapfen in der Hosentasche. Auch wenn das zu Missverständnissen à la Mae West führen kann: „Ist das da ein Revolver in Ihrer Hosentasche, oder freuen Sie sich nur, mich zu sehen.“


Differenzieren muss man auch bei der Bewertung von Vorlieben im Sport. Schalke-Fan zu sein zum Beispiel bedeutet nicht, dass man zwingend Anhänger sadomasochistischer Praktiken sein muss, auch wenn das in dieser Saison eindeutig geholfen hätte.


Was im Alltag einleuchtet, muss für die Politik erst recht gelten. Die Regierung fordert von uns extrem differenziertes Denken. Draußen vor einem Restaurant mit Abstand zu essen ist nicht erlaubt. In einer Firma dicht an dicht Lebensmittel zu produzieren, ist für‘s Infektionsgeschehen kein Problem.


Der Besuch eines Fachgeschäfts war lange untersagt, während Baumärkte geöffnet hatten. Der Besuch von Kirchen ist erlaubt, der von Kulturtempeln mit Lüftungsanlagen und ausgefeilten Hygienekonzepten nicht. Ein Friseurbesuch, bei dem mein Resthaar in einer körpernahen Dienstleistung berührt wird, ist kein Problem. Hätte der Friseur eine schummrige rote Beleuchtung und würde mein Resthaar nicht nur am Kopf, sondern am ganzen Körper berühren, wäre diese Art der körpernahen Dienstleistung verboten.


Die Pandemiebekämpfung ist ein Trainingslager für die Fähigkeit zum differenzierten Denken. Den Überblick dabei zu bewahren, ist ohne Psychopharmaka oft nur schwer möglich.


Auch Oppositionsparteien stellen uns vor große Herausforderungen. Die AfD zum Beispiel verlangt uns besonders differenziertes Denken ab, auch wenn sie selbst undifferenziert über Flüchtlinge und Coronamaßnahmen urteilt. Alice Weidel sagte in der Talkshow von Markus Lanz, dass die AfD keine Nähe zu Querdenkern habe und dass 40 AfD-Abgeordnete bei der ersten Querdenker-Demo nur waren, um herauszubekommen, was die Gedanken und Forderungen der Querdenker seien. Warum AfD-Abgeordnete im Parlament Querdenker-T-Shirts tragen, Querdenker einladen, damit sie im Bundestag andere Abgeordnete belästigen können und sie sich verstärkt um Wähler aus dieser Szene bemühen, erklärte sie nicht. Die These, dass die AfD keine Nähe zu Denkern hat, wäre überzeugender gewesen. Alice Weidel, die wohl unsympathischste gebürtige Harsewinkelerin, setzt differenziertes Denken nur da ein, wo es ihre kruden Theorien unterstützt.


Wir alle lieben Klischees über Politiker*innen und Parteien


Grüne predigen Enthaltsamkeit, fliegen aber in den Ferien zum Ökocamp auf Sizilien. Die Salonsozialistin Sahra Wagenknecht predigt seit Jahren einen realmöglichen Sozialismus, während sie beim regelmäßigem Hummer-Futtern mit ihrem Partner Oskar Lafontaine abgelichtet wurde.


Die Regierungsparteien erwarten in Pandemiezeiten vom Wahlvolk solidarisches Handeln, während sich CDU-Abgeordnete mit Maskenprovisionen eigennützig die Taschen füllten. Olaf Scholz, Hüter der Finanzen, kann sich an ein Treffen mit der Warburg-Bank, bei der es um den Verzicht auf 47 Millionen Euro Steuern ging, nicht erinnern. Als Mann der Zahlen glaubt er, dass man mit 14 Prozent Kanzler werden kann.


Die FDP bestätigt als Ausnahme die Regel. Sie steht für neoliberalen Hedonismus und lebt ihn auch. „Wasser predigen und Wein“ trinken ist ein Vorurteil, das vielen Polikern zurecht entgegengebracht wird. Dabei wusste schon Jesus, wie dieses Problem zu lösen ist. Er verwandelte Wasser in Wein, wodurch Volk und Volksvertreter kurzfristig wieder dasselbe trinken konnten. Eine Logik, die auch Christian Lindner gefallen würde. Wein für alle, die ihn sich leisten können, während er im Promi-Restaurant Borchers in Berlin Gesinnungsfreunde umarmt, ohne Maske versteht sich, dafür mit Videobeweis.


Als Meister des differenzierten Denkens hat sich in den vergangenen Monaten Peter Altmaier erwiesen. Nicht nur, dass er der Kulturszene beigebracht hat, dass die Bezeichnung von Wirtschaftshilfen mit Begriffen wie „Novemberhilfe“ und „Dezemberhilfe“ zwar den Monat bezeichnen, aber nicht das Jahr, in dem sie ausgezahlt werden. Er ist auch der erste Minister, der soweit differenzieren kann, dass er heute das Kippen eines Klimaschutzgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als Erfolg feiert, das er selbst vor eineinhalb Jahren verabschiedet und somit verursacht hat. Peter hat sich wahrscheinlich schon in der Schule bedankt, wenn er zum Nachsitzen verdonnert wurde, weil er seine Hausaufgaben mal wieder nicht gemacht hatte.


Söder erlaubt Open Air-Veranstaltungen in Bayern, damit er nicht nur bei Umfragen sondern künftig auch bei der Anzahl der Wahlkampfveranstaltungen vor Laschet liegt. Man kann den lustigen rheinischen Politzwerg Laschet sympathischer als „Narziss und Goldmund“ Söder finden und trotzdem als Kanzlerkandidat nicht für geeigneter halten. Zu der Überzeugung, dass der Parteivorsitzende zwingend auch Kanzlerkandidat sein muss, mussten einige erst gezwungen werden.


Wenn Anne Will einen Gesprächsgast nicht mag, sieht sie aus wie Lord Voldemort. Als sie Anna-Lena Baerbock interviewte, hatte man kurzzeitig Angst, sie würde sie gegen Ende der Sendung auffressen. Das wäre eine kurze Kandidatur gewesen. Mit ihrer These, Baerbock sei nur Kanzlerkandidatin der Grünen geworden, weil sie eine Frau ist, warf sie die Frage auf, ob sie seit einigen Monaten mit einem Hilde-Knef-Gedenk-Lifting moderiert, nur weil sie eine Frau ist oder weil sie als gereifte deutsche TV-Moderatorin dem amerikanischen Jugendwahn verfallen ist. Diese Sendung hat gezeigt, dass auch alte weiße Frauen Macho-Thesen vertreten können und das nicht nur beim Schützenfest in Harsewinkel, sondern vor laufenden ARD-Kameras. Man und frau lernen hier, Vorurteile differenzierter zu betrachten.


Eine Freundin von mir spielt eine Rolle in einer der erfolgreichsten deutschen TV-Serien. Sie wird seit vergangenem Jahr bei Dreharbeiten täglich getestet. Wenn Sie eine Kuss-Szene hat, muss sie vorher eine Woche in Quarantäne. In deutschen Unternehmen waren die Tests bis vor kurzem freiwillig. Die wenigsten deutschen Führungskräfte haben ihre Sekretärinnen vor körpernahen Dienstleistungen nach Dienstschluss vorab in Quarantäne geschickt. Einer von vielen Gründen, warum der Shutdown so lange dauert. Ein weiterer Grund: Mit Wollmütze, Schal, Winterjacke und in Badehose im Winter rauszugehen, führt zu einer Erkältung, möglicherweise nur der Blase, aber man erkältet sich.


Was sollte es also bringen, im März und April Öffnungen zu fordern, bevor ein echter Lockdown die Infektionszahlen reduziert hat?


Es gibt Lebensbereiche, in denen uns logisches Denken weiterhelfen würde. Manchmal sollte die Politik eher auf die Wissenschaft vertrauen, als auf bestimmte Wählerkreise in Wahlkampfzeiten. Mit mäßigen Lockerungen im März, die zu stärkeren Beschränkungen im April und Mai führen, gewinnt man im September keine Wahlen. Geimpfte können jetzt beliebig viele Menschen besuchen. Nichtgeimpfte werden aus Frust und Neid keine Geimpften mehr einladen. Schon bald werden Geimpfte Partys mit anderen Geimpften feiern können. Die Weberei in Gütersloh plant bereits Ü60-Partys.


Bei Grillpartys in der Nachbarschaft muss zur Begrüßung künftig statt der Kiste Bier ein Impfnachweis vorgelegt werden. Meine Tetanus-Impfung gilt dort leider nicht.

Alle Geimpften werden schon im Sommer wieder reisen können. Warum? Damit sie Kraft für die vierte und fünfte Welle im Herbst und Winter schöpfen können.


Völlig überarbeiteten Medizinern in meinem Freundeskreis empfehle ich, einen Job im Kulturbetrieb anzunehmen. Da ist es zur Zeit schön ruhig und man kann seine Überstunden abfeiern.


Ich bin seit mehr als einem Jahr in einer Langzeit-Reha, um mich von den sehr lebendigen, teils auch hektischen 35 Jahren davor auf der Bühne zu erholen. Die Reha nutze ich, um meine Argumentationsweise zu schärfen und zu differenzieren.


Bei Anhängern von Querdenker-Theorien fällt mir das bis heute schwer. Sie teilen im Netz deutlich gegen Andersdenkende aus. Wenn man ihre Thesen zur Pandemie und Politik kritisiert, behaupten sie, dass es in Deutschland keine Meinungsfreiheit gibt. Wer in einer Pandemie ohne Maske und Abstand demonstriert und deswegen kritisiert wird, hält sich für Sophie Scholl und meint, keine Grundrechte mehr zu haben. Das Grundrecht, unsinnig zu denken, reden und handeln nimmt ihnen dabei niemand.


Im Internet kursiert das Foto eines Querdenkers mit einem Schild: „Santanismus bekemfen“. „Kemfen“ ist ein Kampfbegriff der 5G-Gegner. Kemf = Keine elektromagnetischen Felder. Mehr Infos dazu findet man auf ihrem YouTube-Kanal KemFM. „Santa Nismus“ ist die Schutzheilige der libertären Kaninchen-Bewegung: „Ich nis mus!“. Also handelt es sich hierbei um die Aufforderung, die Auswirkungen von 5G-Strahlung auf freiheitsliebende Kaninchen zu bekämpfen.


Neben differenziertem Denken hilft manchmal auch Recherche

Frei nach Rosa Luxemburg: Die Freiheit des einzelnen hört da auf, wo der eigene Horizont begrenzt ist. Man kann zu allem seine unbelegbare Meinung wiederkäuen, muss man aber nicht. Meinungsfreiheit bedeutet auch, frei von Meinung sein zu dürfen, wenn man keine Ahnung hat. Oder wie man in Rietberg sagt, macht ma’ ‘n Päusken.


Wer Freude an Schauspieler*innen vor der Kamera hat, brauchte nach dem harten Tobak von #allesdichtmachen ebenso harten Alkohol.


Max Frisch erklärte den Unterschied zwischen Schauspielern und Autoren vor vielen Jahren folgendermaßen:

„Ein Schauspieler kann vielleicht dumm und groß sein; ein Dichter, fürchte ich, kann beides nicht vereinen.“

Nachdem ich die Videos von Jan Josef Liefers, Richy Müller und anderen gesehen hatte, hat sich dieses Gefühl auch bei mir verstärkt.


Ich kann nach wie vor den Münster-Tatort sehen, da er sehr viel unterhaltsamer und stimmiger ist als die Politfilmchen dieser missglückten Aktion. Warum Axel Prahl nicht bei den Corona-Videos mitgemacht hat? Als Nordlicht ist er für unüberlegte Äußerungen schlicht und ergreifend zu langsam.


Wenn Liefers „Satire“ als Ausrede benutzt für fehlende eigene Alternativen zu den bestehenden Maßnahmen, wirkt er noch selbstgefälliger als Professor Boerne. Ironie ist keine Erkrankung der Zirbeldrüse, die zur Unfähigkeit führt, sich vom Jargon und den Inhalten von Menschen im rechten Spektrum zu distanzieren, mit denen man weder privat noch beruflich konform geht. Ironische Zuspitzung kann den Druck aus festgefahrenen Situationen nehmen oder zumindest neue Blickwinkel in entspannter Haltung zeigen. Diese „Kunst-Aktion“ hat das Gegenteil bewirkt. Mich ödet mittlerweile diese altersbedingte Dieter-Nuhr-Masche an, als intelligenter Mittelstandskommödiant erst Humor auf Stamntisch-Niveau abzusondern und dann die dreifache Zeit mit der Rechtfertigung und Distanzierung von Freunden des Stammtisch-Humors zu verbringen. Vielleicht mal mehr Zeit mit dem Feinschliff an der Satire verbringen? Die #allesdichtmachen-Aktion war schlecht gemacht und hat deswegen ihr Ziel verfehlt. Vom hohen Ross herab Eigentore schießen, sollte man Polospielern überlassen und Satire denen, die damit einen Erkenntnisgewinn erzeugen.


Was das alles mit Gütersloh zu tun hat?

Eine Stadt, die Organisatoren von Mittelalterfesten im Frank-Zappa-Look zum Bürgermeister macht, hat differenziertes Denken erfunden.

Wir Ostwestfalen gelten üblicherweise eher als bodenständig, stur und Freunde klarer einfacher Sätze.


Das muss differenziertes Denken nicht ausschließen. Wir wissen nur, wann es den Aufwand lohnt und wann man auch ohne klarkommt.

Ostwestfalen kommen damit besonders gut und unversehrt durch Krisen. Das liegt nicht zuletzt an unserem gesunden Desinteresse am Mitmenschen.




Zur Person

Martin Quilitz hat seine ersten beruflichen Schritte in Rietberg und Gütersloh gemacht. Mittlerweile ist der gebürtige Rietberger Moderator, Kabarettist und Regisseur und kann auf mehr als 3.000 Bühnenauftritte sowie 199 TV-Sendungen zurückblicken. Er konzipiert, geht mit Varieté-Shows auf Tour, moderiert Comedy-Clubs, Talkrunden, Kongresse, Events, gibt Workshops u.v.m.



Meinung

„Alle Geimpften werden schon im Sommer wieder reisen können. Warum? Damit sie Kraft für die vierte und fünfte Welle im Herbst und Winter schöpfen können.“

MARTIN QUILITZ

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