„Setzt den Kampf gegen Armut auf die Agenda!“

Heiner Wichelmann

Autor: Heiner Wichelmann

Fotos: Heiner Wichelmann

26.01.2022

Ihnen geht es wirtschaftlich so weit ganz gut? Sie haben einen Arbeitsplatz, eine schöne Wohnung und planen schon die Urlaubstage in diesem Jahr? Dann gehören Sie nicht zu den Menschen in Gütersloh, die buchstäblich jeden Cent gebrauchen, um durch den Alltag zu kommen. Tag für Tag, oft seit Jahren und kaum mit Aussicht auf Besserung. Armut in Gütersloh ist Realität und während der Corona-Pandemie noch gewachsen. gt!nfo traf sich mit dem Sprecher der Gütersloher Armutskonferenz, Volker Brüggenjürgen, geschäftsführender Vorstand des Caritasverbandes für den Kreis Gütersloh e. V. und Grünen-Ratsmitglied in Rheda-Wiedenbrück. Sein Appell an Politik und Verwaltung: Setzt die Sozialpolitik auf die Agenda!


Herr Brüggenjürgen, seit 2017 setzt sich die Gütersloher Armutskonferenz für die armen Menschen in Gütersloh ein. Wie viele Menschen sind geschätzt eigentlich bei uns betroffen?


Brüggenjürgen: Konkrete aktuelle Zahlen für die Stadt Gütersloh kann ich Ihnen nicht liefern, aber Sie können davon ausgehen, dass sich die Situation in den Pandemie-Jahren 2020 und 2021 noch verschlechtert hat. In früheren Zählungen hat sich gezeigt, dass die bundesweit erhobenen Zahlen runtergebrochen werden können auf Gütersloh. Laut dem letzten Armutsbericht 2021 hat die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent – das sind rechnerisch 13,4 Millionen Menschen – einen neuen Höchststand erreicht. In Gütersloh würden also etwa 16.500 Menschen zu denen zählen, die man als arm bezeichnen muss. Übrigens veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung im vergangenen Jahr eine Untersuchung zur Kinderarmut in Deutschland, die besorgniserregend ist. Danach machen 22 Prozent der Kinder unter 15 Jahren Armutserfahrungen. Das sind hochgerechnet 2,41 Millionen Kinder. Elf Prozent aller Kinder leben in Haushalten, die trotz der Grundsicherungsleistungen armutsgefährdet sind. Sie können auch diese Zahlen auf Gütersloh tendenziell runterbrechen.


Ab wann gilt eine Familie beziehungsweise eine Einzelperson als arm?


Brüggenjürgen: Man spricht von einer Armutsgefährdungsschwelle und die liegt in Deutschland aktuell bei 1.074 Euro pro Monat für einen Ein-Personen-Haushalt und bei 2.256 Euro für einen Haushalt mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern zwischen 14 und 18 Jahren. Das ist aber nur die finanzielle Betrachtung. Damit einher geht die geringere Teilhabe an zentralen Lebensbereichen: Bildung, Kommunikationsmöglichkeiten, Kultur, Ernährung und so weiter.


Corona hat auch die Arbeit der Armutskonferenz, an der ja Initiativen wie die Suppenküche und die Tafel, und Wohlfahrtsverbände wie Parteien wie SPD, Grüne und CDU beteiligt sind, fast lahmgelegt. Dennoch: Auf welchen Erfolg in Ihrem Kampf gegen Armut können Sie verweisen?


Brüggenjürgen: Wir sehen es als Erfolg, dass es uns gelungen ist, von Anfang an parteiübergreifend zu arbeiten und dass wir das Thema in die Mitte der Stadtgesellschaft gerückt haben. Ich finde es erfreulich, dass nach der zweiten Armutskonferenz 2019 unser informelles, loses Netzwerk zusammengeblieben ist und das Ziel weiterverfolgt, das Thema Armut in GT sichtbar zu machen. Sie müssen sehen: Als wir anfingen, war es noch eine Hürde, Armut mit Gütersloh zu verbinden. Die großen Firmen wurden ja mit ihrer protestantischen Arbeitsethik als Schutzschild für die Stadtgesellschaft empfunden. Aber die Wahrheit ist: Auch wenn die Allgemeinheit immer mehr in die Sozialsysteme investiert, bleibt die Armutsquote auf hohem Niveau beziehungsweise verschlechtert sie sich aktuell, und das gilt eben auch für Gütersloh. Die zweite Armutskonferenz 2019 war sicher ein Durchbruch. Damals waren die Werkverträge in der Fleischindustrie der Schwerpunkt. Die Arbeit der Armutskonferenz insgesamt führte auch dazu, dass der Runde Tisch Werkverträge gegründet wurde, der konkrete Forderungen und Anträge an die Politik formulierte.


2021 gab es wegen Corona keine Armutskonferenz?


Brüggenjürgen: Nur virtuell. Und wir mussten lernen, dass Zoom-Konferenzen kein Ersatz für Gruppentreffen sein können. Das Netzwerk funktioniert ja nur konsensual. Das kriege ich über Zoom-Konferenzen nicht so hin wie an einem gemeinsamen Besprechungstisch. Aber auch die digitalen Kontakte zeigen, dass die Mitglieder der Armutskonferenz weiter entschlossen sind, das Thema in den gesellschaftlichen Diskurs zu bringen.


Was bereitet Ihnen am meisten Sorgen?


Brüggenjürgen: Die Pandemie hat die Einsamkeit zunehmen lassen. Der wesentliche Teil von Armut ist der Mangel an gesellschaftlicher Teilnahme, ist die Isolation. Der Mangel an Ressourcen im privaten Haushalt bedeutet Ausgrenzung aus anderen gesellschaftlichen Kontexten. Gastronomie, spontaner Einkauf, Kultur, Vereinsleben und so weiter: das fällt alles weg. Es gibt inzwischen ein hohes Maß an versteckter Armut. Viele schämen sich dafür, arm geworden zu sein und nehmen die Hilfen von Suppenküche, Tafel oder auch Vesperkirche und anderen Angeboten gar nicht an. Andere Betroffene bewegen sich dagegen sehr kompetent in dem sozialen Netzwerk. Wir haben durch Corona teilweise unsere Kontakte und Begegnungen mit den ausgegrenzten Menschen verloren.


Armut kann Menschen auszehren, den Mut nehmen.


Brüggenjürgen: Ja, der tägliche Kampf um Normalität macht mürbe.


Müssen wir vielleicht größer denken? Ist es doch eine strukturelle Frage, dass es überhaupt Armut in unserer eigentlich reichen Gesellschaft gibt? Mit einem einmaligen 300 Euro-Zuschuss ist es doch nicht getan, oder?


Brüggenjürgen: Als Zwischenhilfe ist er willkommen, aber es stimmt schon: Da verfestigt sich was. Menschen ohne Ausbildung, Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende: das sind in der Regel armutsgefährdete Gruppen. Die können sich nicht helfen, wenn sie beispielsweise ein Problem mit ihrem Rechner haben. Alles wird zu einem mutlos machenden Kampf und am Ende gibt es eine Spaltung der Gesellschaft. Wir entwickeln uns in unterschiedliche Welten. Die gut Abgesicherten sind wenig verbunden mit der ärmeren Schicht. Es gibt einfach kaum noch Begegnungsmöglichkeit zwischen den sozialen Gruppen, eine Vermischung von Milieus. Man kriegt es einfach nicht mehr mit.


Bleibt da nur, Strohfeuer zu löschen durch kurzfristige finanzielle Hilfen oder Anhebung der Regelsätze in der Grundsicherung? Was kann eine Kommune tun, um eine sozial gerechte Stadt zu schaffen?


Brüggenjürgen: Wir hoffen erst mal, dass die Politik aufmerksam wird. Wir hatten schon bei unserer ersten Armutskonferenz konkrete Forderungen an die Politik und Verwaltung aufgestellt und ich bin selbst etwas geschockt, wie wenig eigentlich passiert ist bisher. Deswegen habe ich jetzt zum Jahreswechsel eine Erinnerungsanfrage an die Stadt gerichtet. Wir hatten ja gehofft, dass es eine neue Tendenz gibt, dass das Soziale in der Prioritätenliste der Stadt mehr nach oben rutscht, aber das passiert offensichtlich nicht. Politik hätte ja die Möglichkeit, Stellschrauben zu setzen.


Können Sie sich erklären, warum es so schwer ist, eine sozial gerechtere Stadt zu schaffen?


Brüggenjürgen: Dafür gibt es viele Gründe, von der Überlastung der Verwaltung bis hin zu rechtlichen Regelungen, die oftmals bremsend wirken. Es ist ja nicht so, dass die einflussreichen Menschen in Gütersloh etwa soziale Ausgrenzung befürworten. Egal, mit wem man spricht: Jeder wünscht sich mehr soziale Gerechtigkeit – alle Politiker im Rat, Geschäftsleute, auch reiche Menschen. Das ist allgemeiner Konsens. Vielleicht liegt der Fehler darin, dass die Kommunalpolitik zu sehr in Steinen denkt. Bauen, Infrastruktur, Klimatechnik und so weiter. Aber schon bei der Frage, wie wir flächendeckend die Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder erhöhen können, scheitern wir. Programme für Schülerbetreuung, Sprachkurse und so weiter, die tauchen in der Gesamtheit im Vergleich zu anderen kommunalen Aktivitäten nicht ausreichend auf. Was wir vorfinden, ist mehr administrative hoheitliche Armutsverwaltung.


Besteht die Gefahr, dass wir uns daran gewöhnen, dass ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft arm ist und außen vorbleibt?


Brüggenjürgen: Ich habe da die feste Überzeugung, dass wir hier nicht in das amerikanische Modell abgleiten. Wir leben in einer christlich geprägten, mitmenschlichen, parteiübergreifenden Solidargemeinschaft, man müsste nur mehr daraus machen: Ziele formulieren für Menschen, denen es nicht so gut geht, im Wissen, dass es allen besser geht, wenn es auch den sozial Schwachen und auch meinem Nachbarn gut geht. Dieser Konsens ist noch da.


Wie hoch ist eigentlich der Migrantenanteil an den Armen?

Brüggenjürgen: 2015 gab es für Gütersloh einen statistischen Bericht zur Lage der Familie in der Stadt Gütersloh über Sozialräume und anderes. Damals war man allgemein überrascht, wie hoch die Arbeitsmigration ist und aus welchen Ländern die Menschen kommen. In der Öffentlichkeit hat es eine Fortschreibung dieses Familienberichts bis heute nicht gegeben.


Sie haben mit der Armutskonferenz eine verstärkte Wohnraumkontrolle bei den Arbeitsmigranten gefordert. Wie sehen die Erfahrungen bis heute aus?


Brüggenjürgen: Rheda-Wiedenbrück hat sehr gute Erfahrungen mit der Wohnraumkontrolle gemacht. Ich hoffe sehr, dass Gütersloh diese positiven Ansätze übernimmt und zunehmend offensiv und kontinuierlich in diese prekären Quartiere und Wohnungen hineingeht. Dies könnte die dort vorhandenen Missstände wirklich verbessern. Was an allen Ecken und Enden fehlt, ist bezahlbarer Wohnraum für arme Menschen, aber auch für Familien mit niedrigen Einkommen. Das ist wirklich ein großes Problem in Gütersloh.


Warum leben so viele Familien in zu kleinen Wohnungen? Sie werden doch unterstützt, wenn sie mehrere Kinder haben und größere Wohnungen mit ausreichend Zimmern brauchen.


Brüggenjürgen: Wenn ich den Hartz IV-Satz habe, berechnet die Stadt nur den angemessenen individuellen Satz. Die Vermietungspreise sind aber auf dem privaten Markt enorm gestiegen, was vom Hartz IV-Satz nicht abgedeckt wird. Das bedeutet in der Konsequenz, dass viele Familien ihren Hartz IV-Satz für zu hohe Mieten zusätzlich mit einbringen müssen. Außerdem sind größere, angemessene Wohnflächen in aller Regel nicht bezahlbar für Familien mit zu niedrigem Einkommen. Das ist ein großes Problem. Und es ist bitter, dass diese Menschen durch die Pandemie noch zusätzlich geschwächt wurden, weil zum Beispiel Jobs weggefallen sind.


Wenn wir uns noch mal in zehn Jahren treffen würden, glauben Sie, dass wir über die gleichen Themen sprechen würden?


Brüggenjürgen: Ich hoffe, dass es in zehn Jahren in der Politik die Übereinstimmung gibt, dass materielle Armut und mangelnde Teilhabe in der Stadt Gütersloh nicht akzeptiert wird. Ich bin zwar durchaus frustriert, wie viele Beschlüsse des Rates es gibt, die von der Verwaltung nicht umgesetzt werden, auch wegen Arbeitsüberlastung, aber ich bin optimistisch, was das Bewusstsein der Bürgerschaft und unseren Armutskreis betrifft. Da ist Schwung drin, wie man bei unseren Zoomkonferenzen merkte. Es gibt genug Menschen, die die soziale Schere nicht mehr hinnehmen wollen. Wir müssen und wir werden jetzt dieses Thema neu in den Mittelpunkt rücken.



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