Leitplanken zum Festhalten an der Erinnerung

Fotos: Stadt Gütersloh

30.04.2024

Was bleibt, wenn Erinnerungen sich auflösen, wenn Worte fehlen und Gedanken sich im Kreis drehen? – „Musik“, bestätigt der Blick in einige Gesichter beim Konzert am vergangenen Freitagnachmittag auf der Studiobühne im Gütersloher Theater. „Erinnerungsstücke“ stehen auf dem Programm, aber das ist mehr als der „kleine grüne Kaktus“ oder „das bisschen Haushalt“. Es ist eine Aufführung, die dem einen oder der anderen im Publikum kleine Leitplanken zum Festhalten gibt – ein wohlig-warmes Gefühl von Kennen, Wissen und Dabeisein.


„Erinnerungsstücke“ ist eine Premiere, quasi eine Uraufführung im Gütersloher Theater. Denn diese Mixtur aus  Musik, Erzählung und Erinnerung – komplettiert durch einige Anker-Gegenstände aus den 60er-Jahren – richtet sich vorrangig an ein besonderes Publikum. Menschen mit demenziellen Erkrankungen sind mit Angehörigen, Betreuern und Betreuerinnen zur Studiobühne gekommen – der größere Teil in Gruppen aus Pflegeeinrichtungen. Aber auch Einzelkarten sind verkauft worden, sagt die Seniorenbeauftragte der Stadt Gütersloh, Heidi Ostmeier. Sie hat zusammen mit dem Theater und mit der Musikschule für den Kreis Gütersloh, großzügig unterstützt von der Bürgerstiftung Gütersloh und gefördert vom Landesfonds „Kulturelle Bildung im Alter“, ein Kooperationsprojekt auf den Weg gebracht, das keine einmalige Sache bleiben wird.

Mit großem Einsatz, aber auch mit spürbar großer Freude ist dieser Nachmittag von den Akteuren auf der Bühne dargeboten worden. Als Trio geben Sabine Seipelt (Flöte), Armin Lohbeck (Violoncello) – beide von der Kreismusikschule – und der Kölner Pianist Thomas Müller den Ton an. Stephanie Riemenschneider, Konzertpädagogin unter anderem mit Lehrauftrag an der Universität Köln, hat das Konzept ersonnen und die Moderation übernommen. Sie versteht es, mit ihrer freundlich-zugewandten Art vom ersten Augenblick an eine gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre zu schaffen. Aber auch die anderen „kleben“ nicht an ihren Instrumenten. Es wird gesungen, Sabine Seipelt und Stephanie Riemenschneider suchen immer wieder den direkten Kontakt in den Zuschauerreihen.


„Alltag“ ist bewusst als Leitthema gewählt, und so beginnt der Tag mit einem Staubfeudel und Johanna von Koczians Hitparaden-Nummer-Eins: „Das bisschen Haushalt“. An der mit Tapetenschick aus den Sechzigern ausgekleideten Projektionswand erscheint der Text, und der Refrain wird kräftig mitgesungen. Aber es sind nicht nur die bekannten Songs aus früheren Jahrzehnten, die Nähe und Vertrautheit schaffen. Caféhaus-Tische sind aufgebaut, auf einigen steht das steingraue Telefonmodell von anno tuck. „Kein Schwein ruft mich an…“ ist dazu der passende Soundtrack. Auf anderen steht das Tischlämpchen mit Troddeln am beigen Lampenschirm. Die kleine Bühne nimmt das Thema auf und imitiert eine Wohnzimmerecke mit gedrechselten Eichenholzstühlen und Leseecke mit Stehlampe. Alles ist in warmes, freundliches Licht getaucht.  Stephanie Riemenschneider erzählt einfache Geschichten, die meistens in Musik münden, aber auch immer ein kleines Stück Lebenswirklichkeit übermitteln. 


In dieses Setting passt dann auch ein Satz aus Haydns Trio in G-Dur, sympathisch eingeführt mit einem Ratgeber für Hauskonzerte aus dem Jahr 1939: „Prüfen Sie, ob Sie dem Ensemble gewachsen sind.“ Das ist auf der Gütersloher Studiobühne allerdings überhaupt keine Frage, es wird gesungen, geklatscht und applaudiert. Zwar wird (noch) nicht getanzt, aber energisch mit Füßen gewippt. Und beim „Lalelu“, das das Ende des Tages markiert, hätte es vermutlich die Textprojektion nicht gebraucht. Das Schlaflied, das seinen Siegeszug 1955 mit dem Rühmann-Film „Wenn der Vater mit dem Sohne“ antrat, trifft offensichtlich mitten ins Herz und wird zum gefühlvollen generationsübergreifenden Finale, als die Vorschulkinder der Kreismusikschule hinzukommen. Zum Abschied gibt es Rosen fürs Publikum und noch einmal einen sehr herzlichen Applaus.


Die Premiere war mit dem Label „Pilotprojekt“ versehen, aber an diesem Nachmittag ist einmal mehr deutlich geworden, was dieses Konzept zu leisten vermag: „Den betroffenen Senioren spezielle auf sie zugeschnittene kulturelle Erfahrungen und Begegnungen zu ermöglichen“, bringt es Nina Spallek, Geschäftsführerin der Bürgerstiftung, auf den Punkt. Heidi Ostmeier sieht am Schluss der Veranstaltung mindestens so zufrieden aus wie die übrigen Zuschauer: „Es war eine sehr schöne Erfahrung, zu erleben, wie Planungen Wirklichkeit werden und wie die Menschen durch die Musik erreicht werden.“ Karin Sporer, stellvertretende Theaterleiterin, nickt zustimmend und ergänzt: „Musik live zu erleben, ist für jedes Publikum einzigartig, und dank der Kooperation konnte jetzt eine besondere Zielgruppe in den Genuss kommen.“ Die Gütersloher „Erinnerungsstücke“ gehören zu den 13 Projekten, die zur Förderung aus dem Fonds „Kulturelle Bildung im Alter“ des Landes Nordrhein-Westfalen aus 80 Bewerbungen ausgewählt wurden. Gute Voraussetzung also für eine Wiederholung. Angedacht ist, künftig zwei Konzerte pro Spielzeit anzubieten. 

 

Wohnzimmeratmosphäre: Beim Konzert „Erinnerungsstücke“ wird gesungen, aber auch gelesen.


Volles Haus: Die Studiobühne war bis auf den letzten Platz besetzt und es gab viel Applaus.


Generationsübergreifender Schlussakkord: „Lalelu“ zusammen mit den Vorschulkindern der Kreismusikschule ging mitten ins Herz.


Rosen zum Abschied: Das Pilotprojekt „Erinnerungsstücke“ feierte eine gelungene Premiere.

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